Der Findling
Christen an diesem Tage veranstalten. Unbekannt war ihm aber, daß man im Vereinigten Königreich damit auch ein schönes Familienfest verband. Für ihn mußte das also eine Ueberraschung werden. Er bemerkte wohl am Morgen ungewöhnliche Vorbereitungen. Da die Großmutter, Martine und Kitty dieselben jedoch mit vollständiger Heimlichkeit betrieben, hütete er sich wohl, sie darüber zu fragen.
Jedenfalls wurde er veranlaßt, die besten Kleider anzulegen, was Martin Mac Carthy und seine Söhne, die Großmutter, deren Tochter und Kitty schon sehr frühzeitig gethan hatten, um nach der Kirche in Silton zu fahren. Sie behielten den Staat auch den ganzen Tag über an. Dazu kam, daß das Mittagsessen heute für zwei Stunden später angesetzt und es fast schon Nacht war, als der Tisch im großen Zimmer mit einem Reichthum an Licht, der geradezu blendend wirkte, hergerichtet wurde. Ferner gab es ganz besonders ausgewählte Speisen und deren gar noch drei oder vier Gerichte mehr als gewöhnlich. Hierzu wurde schäumendes Bier aufgetragen und ein Ungeheuer von Kuchen, den Martine und Kitty nach einem schon sehr lange Zeit in der Familie aufbewahrten Recepte hergestellt hatten.
Daß tüchtig gegessen und getrunken wurde, versteht sich ja von selbst. Alle waren höchst aufgeräumt. Selbst Murdock ließ sich weit mehr gehen, als er das sonst zu thun pflegte. Wenn die andern laut auflachten, lächelte er freilich nur, und ein Lächeln von ihm glich einem Sonnenstrahl im Nebel.
Am meisten freute sich der Findling über den auf dem Tische stehenden Christbaum, eine Tanne mit Bänderschmuck und mit Lichtsternen, die zwischen den Zweigen funkelten.
Da sagte die Großmutter zu ihm:
»Sieh nur auch unter die Zweige, Kleiner; ich glaube, da findet sich noch etwas für Dich!«
Der Findling ließ sich darum nicht bitten; doch wie beglückt fühlte er sich, wie rötheten sich seine Wangen vor Vergnügen, als er unter dem Baume ein schönes irländisches Messer mit an einem Ledergürtel befestigter Tragkette entdeckte.
Das war das erste Weihnachtsgeschenk, das er je erhalten hatte, und wie stolz fühlte er sich, als Sim ihm half, den Ledergurt um die Hüften zu schnallen.
»Ach, herzinnigen Dank, Großmutter, herzlichen Dank allen… allen!« rief er jubelnd, während er von einem zum andern ging.
Zehntes Capitel.
Was sich in Donegal zugetragen hatte.
Wir dürfen jetzt nicht unerwähnt lassen, daß dem Farmer Mac Carthy der Gedanke gekommen war, wegen des Civilverhältnisses seines Adoptivkindes Nachforschungen anzustellen. Bekannt war dessen Lebensgeschichte ja nur seit dem Tage, wo gute Menschen den Knaben der schlechten Behandlung des Puppenschaustellers entzogen. Bezüglich seiner früheren Existenz hatte der Kleine, wie wir wissen, eine unklare Erinnerung davon bewahrt, daß er bei einer recht bösen Frau, zugleich mit einem oder auch zwei Mädchen, in einem Dörfchen des inneren Donegal gewohnt hatte. Nach dieser Seite hin mußte Martin seine Nachforschungen also richten.
Dadurch erhielt er aber nur folgende Aufschlüsse: Im Armenhause von Donegal fand sich die Spur eines achtzehnmonatlichen Kindes, das unter der Bezeichnung »Der Findling« aufgenommen und später in ein Dorf der Grafschaft an eine Frau abgegeben worden war, die sich mit dem Aufziehen kleiner Kinder gegen Entgelt befaßte.
Wir wollen diese Nachricht durch weitere uns zugegangene Aufklärungen vervollständigen. Diese ergeben freilich nur die ganz gewöhnliche Geschichte kleiner, unglücklicher Wesen, die der öffentlichen Fürsorge anheimgefallen sind.
Das im Hintergrunde der Bai gelegene Städtchen. (S. 115.)
Donegal, mit einer Bevölkerung von zweimalhunderttausend Seelen, ist vielleicht die allerärmste Grafschaft in der Provinz Ulster, ja in ganz Irland. Vor einigen Jahren gab es dort kaum zwei Matratzen und acht Strohsäcke auf je viertausend Einwohner. In jenen unfruchtbaren nördlichen Gebieten der Insel fehlt es nicht an willigen Armen für den Landbau, wohl aber an anbaufähigem Boden. Der ausdauerndste Arbeiter erschöpft sich dort vergebens. Im Innern sieht man nichts als dürre Thalmulden, öde Schluchten, hügeliges Land, Steinwüsten, sandige Dünen, gähnende Torfmoore, wie sumpfige Strecken, überragt von steilen Höhen, wie den Glendowan-und den Derryveaghbergen, kurz ein »zerbrochenes Land«, wie die Engländer sagen. An der Küste finden sich Baien und Fjorde, Buchten und Einschnitte, die ebenso viele Aushöhlungen bilden,
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