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Der Findling

Der Findling

Titel: Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Whisky oder Gin geleert waren. Da und dort hingen oder lagen Fetzen und Lumpen umher, die kaum noch die Form von Kleidungsstücken verriethen, und etwas schmutzige Wäsche, die entweder im Kübel eingeweicht war oder draußen auf einer Stange zum Trocknen hing. Auf dem Tische aber lag fortwährend eine vom vielen Gebrauch abgenutzte Ruthe. Das war das Elend im schlimmsten Grade… das Elend, wie es in den ärmsten Stadttheilen Dublins oder Londons, in Glerkenwell, Marylebone und in Whitechapel herrscht, das irische Elend, das schlimmste von allen, das Gespenst, das in den Ghettos des Ostends spukt. Die Luft freilich ist in den Spelunken von Donegal nicht in gleicher Weise verpestet; hier athmet man die belebende Luft der Berge und die Lunge füllt sich nicht mit gefährlichen Miasmen, den gesundheitsschädlichen Ausdünstungen der großen Städte.
    Natürlich war in dieser Hütte das Lager der Hard vorbehalten, die Streu aber für die Kinder bestimmt und … die Ruthe ebenfalls.
    Die »Hard«, so bezeichnete man die Bewohnerin, d. h. »die Harte«, und diesen Namen verdiente sie in der That. Es war die abstoßendste Megäre, die man sich nur vorstellen kann, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, lang und stark, mit dünnem, wirr herabhängendem Haar, von rothen Brauen überschatteten Augen, mit Hakenzähnen, schnabelförmiger Nase, knochigen Händen – mehr Tatzen als Händen – mit Krallen als Fingern, nach Alkohol riechendem Athem und bedeckt mit einem zerschlitzten Hemd und zerrissenen Rocke, während sie stets barfuß ging und auch eine so derbe Haut an den Fußsohlen hatte, daß diese nicht einmal durch das Gehen über lose Kieselsteine belästigt wurden.
    Dieser weibliche Drache beschäftigte sich mit dem Spinnen von Leinen, das in Irland, vorzüglich aber von den Bäuerinnen in Ulster, gewöhnlich betrieben wird. Die Leinencultur liefert auch wirklich noch einige Ausbeute, obwohl sie an die der Ackerfruchternten eines besseren Bodens nicht heranreicht.
    Mit dieser Arbeit, die ihr täglich einige Pence einbrachte, verband die Hard noch eine andre – für sie ganz unpassende – Erwerbsquelle: sie zog kleine Kinder auf, die ihr von öffentlichen Anstalten überwiesen wurden.
    Bei Ueberfüllung der Armenhäuser der Städte oder bei drohenden Seuchen schickt man diese zu bejahrteren Frauen, die ihre mütterliche Sorge ebenso verkaufen, wie sie jede andre Waare verkaufen würden, und zwar zu einem Jahrespreise von zwei oder drei Pfund Sterling (40 oder 60 Mark). Erreicht das Kind ein Alter von fünf bis sechs Jahren, so wird es an das Armenhaus zurückgegeben. Die Pflegemutter kann bei jener geringen Entlohnung für sich kaum etwas erübrigen. Und wenn solch ein Baby unglücklicher Weise in die Hände eines Geschöpfes ohne Herz und Gemüth fällt – was gar so häufig zutrifft – so ist es nicht selten, daß es an der schlechten Behandlung und dem Mangel an Nahrung zu Grunde geht. Wie viele solcher schwachen Menschenkinder gelangen in das Armenhaus nicht wieder zurück! – Das war wenigstens der Fall vor dem Kinderschutz-Gesetz von 1889, das in Folge strenger Ueberwachung der »Engelmacherinnen« die Sterblichkeit der aus der Stadt weggegebenen Kinder wesenlich vermindert hat.
    Zur Zeit, von der wir berichten, bestand nur eine leichte oder gar keine Beaufsichtigung. In Rindok hatte die Hard weder den Besuch eines Inspectors, noch auch eine Anklage seitens der im eignen Unglück verhärteten Nachbarn zu fürchten.
    Vom Armenhause in Donegal waren ihr drei Kinder anvertraut worden, zwei kleine Mädchen von vier und von sechseinhalb Jahren, und ein Knäblein von zwei Jahren und neun Monaten.
    Natürlich waren es verlassene Kinder oder gar auf der Straße gefundene Waisen. Jedenfalls kannte man ihre Eltern nicht und würde man diese auch nie kennen lernen. Mit der Rückkehr nach Donegal stand ihnen blos das Work-House (Arbeitsanstalt) offen, das Work-House, das sich in allen Städten und selbst in vielen Dörfern Großbritanniens wiederfindet.
    Im Armenhause erhielten die eingelieferten Pfleglinge den ersten besten Namen. Der des jüngsten der kleinen Mädchen interessiert uns nicht, denn sie steht nahe vor ihrem Ende. Die größere hieß Sissy, eine Abkürzung von Cecily. Ein hübsches, blondhaariges Kind, das sich bei besserer Pflege gewiß vorzüglich entwickelt hätte, war es, mit großen blauen, intelligenten, guten Augen, deren Klarheit durch Thränen freilich schon gelitten hatte. Jetzt erschienen, bei

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