Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Findling

Der Findling

Titel: Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
wieder zurecht, doch statt ungehalten zu sein, schien er sich vielmehr wegen der durch ihn verursachten Störung entschuldigen zu wollen. Sein Gruß galt fast ebenso viel dem unreinlichen Vierfüßler, wie der nicht minder unreinlichen Insassin der Hütte. Es konnte ihn ja nicht verwundern, aus dem Schmutz des Innern ein Schwein hervorbrechen zu sehen.
    »Was wollen Sie?… Wer sind Sie? fragte die Hard barsch, während sie dem Fremdling den Weg versperrte.
    – Ich bin ein Agent, liebe Frau,« antwortete der Mann.
    Ein Agent?… dieses Wort machte sie zurücktaumeln; der Mann konnte ja zu der Waisenkinderpflege gehören, obgleich sich ein Inspector im Dorfe Rindok noch so gut wie nie hatte sehen lassen. Vielleicht kam dieser Mann wirklich, um über die aufs Land geschickten Kinder Bericht zu erstatten, und um nach dieser Seite ganz sicher zu gehen, bemühte sich die Hard sofort, ihn durch ihre Redseligkeit zu verblüffen.
    »O, verzeihen Sie, mein Herr!… Sie kommen gerade, wo ich im Begriff stehe, rein zu machen… diese lieben Kleinen; sehen Sie, wie die sichs wohl sein lassen? Sie haben eben eine tüchtige Schüssel Hafergrützsuppe verzehrt…. Das Mädchen da und der Knabe, versteht sich, denn die andre liegt leider krank… ja… an einem Fieber, dem keiner Einhalt zu thun vermag. Ich wollte schon nach Donegal, einen Doctor zu holen…. Die armen süßen Herzchen, ich hänge so sehr an den Kleinen!«
    Mit ihren rohen Gesichtszügen und dem wilden Blicke ähnelte die Hard jetzt einer Tigerin, die das zahme Kätzchen spielen möchte.
    »Herr Inspector, fuhr sie fort, wenn das Armenhaus mir einen Beitrag zu den Kosten der Arzneien bewilligen wollte. Man hat ja kaum so viel, daß es zum Essen und Trinken ausreicht.
    – Ich bin kein Inspector, gute Frau, unterbrach sie der Mann mit süßlicher Stimme.
    – Was sind Sie denn?… fragte die Hard schon aufbrausend.
    – Der Vertreter einer Versicherungsgesellschaft.«
    Der Fremde gehörte zu den Agenten, von denen es in Irland ebensoviele giebt, wie Disteln auf Unland. Sie durchstreifen alle Dörfer, um das Leben der Kinder zu versichern, was unter den obwaltenden Umständen so viel bedeutet, wie ihnen den Tod zu sichern. Gegen monatliche Zahlung weniger Pence haben – so entsetzlich das klingt – Eltern oder Pflegeeltern, lauter solch verabscheuungswürdige Geschöpfe wie die Hard, die »frohe Hoffnung«, beim Ableben der Kleinen eine »Tröstung« von drei bis vier Pfund Sterling (sechzig bis achtzig Mark) einzustreichen. Das ist geradezu eine Verleitung zum Verbrechen und eine so mächtige Triebfeder, daß die ungeheure Kindersterblichkeit zu einer wirklichen nationalen Gefahr geworden ist. Mit Recht hat deshalb Day, der Vorsitzende des Schwurgerichts in Wiltshire, die Anstalten, die daran schuld sind, als Landplagen, als Schulen für Mord und Brandstiftung gekennzeichnet.
    Seit jener Zeit hat das schon erwähnte Gesetz von 1889 allerdings eine wesentliche Besserung dieser Zustände erzwungen, und so ist es auch nicht zu verwundern, daß die »Gesellschaft zur Ausrottung der Grausamkeit gegen Kinder« heute schon recht gute Erfolge erzielt.
    Wer erröthet aber nicht vor zorniger Ueberraschung, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein solches Gesetz bei einer civilisierten Nation nothwendig war, ein Gesetz, das die Eltern verpflichtet, »die Wesen, die ihrer Obhut unterstehen, auch zu ernähren und, selbst wenn sie diese nur in Pflege genommen hatten, sie zwingt, für die Bedürfnisse der Unmündigen unter ihrem Dache zu sorgen« – und das unter Androhung schwerer Strafe, die bis zu zwei Jahren Zwangsarbeit gehen kann.
    O, der Schande, daß es eines Gesetzes bedurfte, wo das natürliche Gefühl hätte ausreichen müssen!
    Zur Zeit des Anfangs dieser Erzählung gab es freilich noch keinen Schutz für die, den Armenanstalten anheimgefallenen Kinder.
    Der Agent, der sich der Hard hier vorstellte, war ein Mann in den hohen Vierzigern, mit lauernder Miene und einschmeichelnder Rede und Haltung – der richtige Typus jener Unterhändler, denen es nur um ihre Provision zu thun ist und die kein Mittel scheuen, sich diese zu verdienen. Er hoffte auch hier »sein Geschäft zu machen«, indem er der Megäre schmeichelte, sich stellte, als ob er von dem traurigen Zustande ihrer Opfer nichts sehe, und indem er sie im Gegentheil beglückwünschte wegen der herzlichen Zuneigung, die sie für die Kleinen hegte.
    »Liebe Frau, fuhr er fort, dürfte ich Sie wohl ersuchen, mit

Weitere Kostenlose Bücher