Der Findling
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Fünf Tage nach dem Besuche des Agenten verschied das kleine Mädchen, ohne daß vorher ein Arzt hinzugezogen worden wäre.
Es war am Morgen des 6. Octobers. Die Hard, die auswärts etwas trinken wollte, hatte die Kinder in der verschlossenen Hütte zurückgelassen.
Die Kranke röchelte. Außer etwas Wasser zur Befeuchtung der Lippen, konnte sie keine Erquickung erhalten. Arzneimittel hätten in Donegal geholt und bezahlt werden müssen…. Da wußte die Hard ihre Zeit und ihr Geld besser anzuwenden. Das kleine Opfer hatte nicht mehr die Kraft. sich zu bewegen. Mitten in der Fieberhitze zitterte sie vor Kälte. Noch einmal öffneten sich weit ihre Augen, wie um das Licht zum letzten Male zu sehen, und als ob sie sagen wollte:»Ach, warum, warum wurd’ ich geboren?«
Ueber sie gebeugt, netzte ihr Sissy sanft die Schläfe.
Findling starrte auf die beiden hin, etwa wie auf einen Käfig, der sich öffnen und einen Vogel herausflattern lassen sollte….
Als das Kind kläglicher seufzte und sich sein Mund dabei verzerrte, fragte er:
»Wird sie etwa gar sterben?« – ein Verständniß dafür hatte er freilich nicht.
– Ja… antwortete Sissy, sie wird in den Himmel kommen.
– Ohne zu sterben kann man wohl gar nicht in den Himmel kommen?
– Nein, das kann man nicht.«
Wenige Augenblicke später erschütterte ein krampfhaftes Zucken das schwache Wesen, dessen Leben nur noch an einem Windhauch hing. Da verdrehten sich die Augen und die kindliche Seele floh unter einem letzten Seufzer aus der zarten Hülle.
Erschrocken sank Sissy in die Kme. Findling ahmte ihr nach und kniete ebenfalls neben der entseelten Gefährtin nieder.
Als die Hard nach einer Stunde heimkehrte, fing sie laut an zu schreien. Dann lief sie wieder hinaus und heulte:
»Todt!… Todt!… Gestorben!«… sie wollte das ganze Dorf zum Zeugen ihres Schmerzes haben.
Doch kaum einige Nachbarsleute ließen sich blicken. Was ging’s ihnen, den Armen und Elenden, denn an, daß eine Unglückliche weniger war? Gab es auf Erden nicht übrig genug andre?… Es wurden deren ja täglich mehr – dieses Samenkorn ging allemal auf.
Als sie diese Rolle spielte, dachte die Hard nur an ihr Interesse und bezweckte, sich den Bezug der erwarteten Summe zu sichern.
Jetzt wurde auch nothwendig, von Donegal den Vertrauensarzt der Gesellschaft zu holen. War er zur Behandlung des Kindes nicht gerufen worden, so sollte er wenigstens dessen Ableben bestätigen; das war eine nicht zu umgehende Formalität der Versicherung.
Die Hard machte sich also noch am nämlichen Tage auf und überließ die Todte der Obhut der beiden Kinder. Sie ging aus Rindok um zwei Uhr nachmittags fort, und da der Hin-und Rückweg zwölf (englische) Meilen betrug, konnte sie vor acht oder neun Uhr abends nicht zurück sein.
Sissy und Findling blieben in der verschlossenen Hütte. Der Knabe hielt sich regungslos neben dem Kamine auf, er wagte gar nicht, sich zu rühren. Sissy wendete dem kleinen Mädchen mehr Sorgfalt zu, als dieser vielleicht je im Leben zu Theil geworden war. Sie wusch ihr das Gesicht, ordnete das Haar und zog ihr das zerrissene Hemd ab, daß sie durch ein weißes Tüchlein ersetzte, welches zum Trocknen dahing. Die kleine Todte sollte kein andres Leichenhemd erhalten, und als Grab nur das Loch, in das man sie eilig versenkte….
Als sie fertig war, streichelte Sissy der kleinen Leiche die Wangen. Findling wollte dasselbe thun… er konnte es nicht vor Entsetzen.
»Komm… komm! rief er Sissy.
– Wohin denn?
– Hinaus!… Komm!… Bitte, komm!«
Sissy weigerte sich. Sie wollte den todten Körper in der Hütte nicht allein lassen. Uebrigens war ja die Thür verschlossen.
»Komm… komm! wiederholte das Kind.
– Nein, nein, wir müssen jetzt hier bleiben!
– Sie ist ja ganz kalt… und ich auch… ich friere, ach, ich friere!… Komm, Sissy, komm mit! Sie könnte uns am Ende mitnehmen, da hinunter. wo sie ist!«
Das Kind war vom Schrecken gepackt. Der Knabe hatte das Gefühl, daß er auch sterben würde, wenn er nicht entwiche. Allmählich wurde es dunkler.
Sissy zündete einen Kerzenstumpf an, den sie in den Spalt eines Stückes Holz klemmte und stellte dieses neben das Todtenlager.
Findling fühlte sich noch mehr entsetzt, als der Lichtglanz die Gegenstände um ihn leicht erzittern zu machen schien. Er liebte ja Sissy, liebte sie, wie eine ältere Schwester. Was er an Liebkosungen erfahren, war von ihr gekommen. Er konnte aber nicht hier
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