Der Finger Gottes
jemanden. Und wenn er jemanden deckte, dann die Vandenbergs. Aber warum?
Auf dem Schreibtisch lag eine Notiz von Schmidt, der sich auf den Weg zum Müllerhof gemacht hatte, um sich dort umzusehen. Brackmann knüllte das Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. Er spürte, wie er wütend wurde; er mochte es nicht, wenn das Büro nicht besetzt war, schon gar nicht an einem Tag wie diesem, wo ständig mit Idioten wie diesem Leutnant gerechnet werden mußte. Er dachte an Nathanael, der doch längst mit dem Schreiben fertig sein mußte.
»Nathanael!« rief er. Keine Antwort. »Nathanael, schreibst du noch?« Wieder keine Antwort. In seiner Brust breitete sich allmählich ein merkwürdiges Gefühl aus. Eine nicht definierbare unheilvolle Ahnung beschlich ihn. Er atmete ein paarmal tief ein, stieß die Luft hörbar wieder aus. Er schnellte von seinem Stuhl hoch, riß die Tür zum Zellentrakt auf – und erstarrte.
Nathanael hatte ganze Arbeit geleistet. Seine Augen quollen aus den Höhlen, die Brille saß fast grotesk auf dem vorderen Teil seiner Nase. Das Gesicht war bläulich verfärbt, die Zunge hing seitlich aus dem Mundwinkel. Das schräg einfallende Sonnenlicht verlieh ihm eine geradezu mystische Aura. Ein Bild wie aus einem schlechten Film.
Zwischen seinen Füßen und dem Boden war eine Lücke von höchstens zehn Zentimetern. Zehn gottverdammte Zentimeter, die den Jungen hatten krepieren lassen! Zehn Zentimeter vom Leben zum Tod! Brackmann ballte die Hände zu Fäusten, Schweiß brach ihm aus, sein Herz begann gegen seinen Brustkorb zu trommeln, aus seinen Beinen wichjedes Gefühl. Ein Kloß in seinem Hals blähte sich immer weiter auf, wollte ihn zersprengen, die Gedanken jagten wie ein Kettenkarussell in seinem Kopf. Mit zittrigen Fingern sperrte er die Zellentür auf, trat an den Jungen heran, fühlte seinen Puls, obwohl der Anblick genügte, um sicher zu sein, daß keine Spur von Leben mehr in Nathan war.
Er holte aus dem Büro ein Messer und schnitt den Gürtel ab; er legte den Jungen vorsichtig auf die Pritsche. Nathans Hand war schlaff und kalt. Wann und vor allem warum, zum Teufel, hatte er das getan? Und warum kutschierte Schmidt bei dem gottverlassenen Müllerhof herum, anstatt hier die Stellung zu halten, solange er nicht da war? Was, um alles in der Welt, hatte Nathan nur dazu getrieben, sein Leben in diesem jungen Alter wegzuwerfen? Er war doch kein Mörder, er hätte doch, wenn überhaupt, nur mit einer relativ kurzen Strafe rechnen müssen!
Der Gesichtsausdruck des Jungen wirkte jetzt entspannter. Ein süßlicher und doch beißender Geruch hing in der Zelle, Blase und Darm von Nathan hatten sich im Todeskampf entleert.
Brackmann lief wie durch eine Nebelwand zum Telefon, wählte die Nummer von Reuter. Danach die von Engler. Kaum hatte Brackmann wieder aufgelegt, kam auch schon Reuter ins Büro gestürzt, wenig später gefolgt von Engler, der völlig außer Atem war. Wortlos hörte Reuter mit dem Stethoskop die Brust des Toten ab, fühlte seinen Puls, hielt ihm zuletzt einen Taschenspiegel vor den Mund. Schließlich schüttelte er den Kopf, holte einen Block und einen Stift aus seiner Tasche und stellte den Totenschein aus.
Als er damit fertig war, sah er Engler und Brackmann an, die stumm an das Zellengitter gelehnt dastanden. Er packte wortlos seine Tasche zusammen, zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch tief ein, wobei er die Augen schloß; es wirkte, als dächte er intensiv nach, dabei war es nur eine Artvon Abschalten von dem, was während der letzten vierundzwanzig Stunden auf ihn eingestürzt war.
Engler machte den gleichen hilflosen Eindruck wie Brackmann, der sich ebenfalls eine Zigarette ansteckte. »Geben Sie mir bitte auch eine«, sagte Engler, worauf Brackmann ihm die Schachtel hinhielt.
»Kann mir mal einer sagen, was seit gestern hier los ist?« fragte Reuter mit tonloser Stimme.
»Was haben Sie gesagt?« fragte Brackmann.
»Kann mir, verdammt noch mal, einer sagen, was seit gestern mit dieser verdammten Stadt los ist? Sind wir denn alle verflucht?« schrie er aufgebracht und hieb mit der linken Hand auf die Pritsche. »Was passiert hier eigentlich? Innerhalb von vierundzwanzig Stunden Maria Olsen, ein Tornado, und jetzt auch noch . . . Mein Gott, wer soll denn das noch begreifen? Warum ist dieser Junge überhaupt hier?«
»Ich muß die Eltern benachrichtigen«, meinte Brackmann, ohne die Frage von Reuter zu beantworten. »Wenn mir nur jemand diese Aufgabe
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