Der Finger Gottes
und ich will unter gar keinen Umständen, daß Ihnen etwas passiert.«
»Ihre Anteilnahme ehrt mich. Aber ich habe einen Kampf begonnen, und ich werde ihn zu Ende führen. Und das gleiche werden Sie auch tun. Es ist trotzdem nett, daß Sie sich um mich sorgen.«
»Sie reden wie ein Priester, Brackmann. Dabei habe ich Sie noch nie in der Kirche gesehen.«
»Man muß nicht unbedingt zur Kirche gehen, um ein guter Mensch zu sein. Und nicht jeder, der zur Kirche geht, ist ein guter Mensch.«
»Wenn das eine Anspielung sein soll, bitte schön! Sie mögen sogar recht haben. Denn es wird ab sofort viele geben, die nicht mehr zur Kirche kommen. Weil sie den Glauben an Gott verloren haben, ein Glaube, der vielleicht nie richtig vorhanden war. Wissen Sie, bei den meisten ist das mit dem Glauben so eine Sache. In sich drin spürenviele, daß es etwas gibt, das größer, mächtiger, geheimnisvoller und besser ist als alles, was die Welt zu bieten hat. Aber die wenigsten versuchen, diese Größe, diese Macht, dieses Gute in ihr Leben einzubeziehen oder dieses Geheimnisvolle zu ergründen. Ich dachte selbst einmal, ich hätte Gott in mein Leben integriert. Ich war tatsächlich überzeugt, das Mysterium Gott entschlüsselt zu haben. Ich wünschte, ich könnte Gott gefallen. Doch im Prinzip bin ich nicht anders als all die anderen Heuchler. Frau Merkel hat kürzlich gesagt, wir seien alle Heuchler. Sie hat recht.«
Engler blickte zur Wand. Brackmann war aufgestanden und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wünschen Sie mir Glück für heute abend.«
»Ach ja, Brackmann, noch was. Wenn es in Ihrem Leben auch nur eine Schwachstelle gibt, dann können Sie sicher sein, daß die Vandenbergs diese längst kennen. Ich wünsche für Sie, daß es keine gibt. Sonst werden Sie möglicherweise schon bald zu all den anderen gehören.«
Brackmann erwiderte nichts darauf. Daran hatte er noch nicht gedacht, aber jetzt, wo Engler es aussprach . . .
Am Mittag waren die gröbsten Aufräumungsarbeiten beendet, fast alle Wege von Schutt und Gebäudeteilen geräumt. Jetzt konnte, wie schon vereinzelt am Tag zuvor, mit dem Bau neuer Häuser, dem Ausbessern von Schäden, dem Reparieren und Decken von Dächern, dem Errichten von Zäunen begonnen werden. In den Nachrichten war der Tornado nicht mehr das alles beherrschende Thema, Waldstein nahm allmählich wieder seinen Platz in den nichtssagenden, geschichts- und gesichtslosen Orten ein. Der einzige Unterschied zu bisher bestand vielleicht darin, in Zukunft in den Statistiken der Wetterämter geführt zu werden, unter der Rubrik »Große Naturkatastrophen«.
Engler machte sich, nachdem Brackmann ihm von seinem kurzen Besuch bei den Vandenbergs berichtet hatte, gegen Mittag auf den Weg in den Ort. Er wollte sich nicht verstecken, er wollte zeigen, daß er für die Leute da war und daß sich jeder jederzeit an ihn wenden konnte. Er fand viele, die über Nacht obdachlos und mittellos geworden waren, die ihr Heim, ihr Hab und Gut oder sogar die ganze Existenz verloren hatten und denen er jetzt mit der großzügigen Spende der Vandenbergs helfend unter die Arme greifen konnte.
Doch seine Angst vor der Trauerfeier blieb. Die Angst vor den Tränen der Hinterbliebenen, vor den Mikrofonen und Kameras der Journalisten, den klagevollen, anklagenden Blicken Überlebender. Dafür die richtigen Worte zu finden, war eine Aufgabe, die alles, was Engler bisher als Pfarrer getan hatte, weit in den Schatten stellte. Er sah im Geiste das Bild der langen Reihen von Särgen vor sich, die unzähligen Menschen aus allen Teilen des Landes, die Reporter, die, getrieben von geiler Sensationsgier, angereist waren, damit ganz Deutschland, vielleicht sogar die ganze Welt von dem Drama erfuhr, das sich in Waldstein abgespielt hatte und das seinen vorläufigen Schlußpunkt am Tag der großen Trauerfeier erleben würde.
Engler schauderte bei diesen Gedanken. Am liebsten hätte er die Trauerfeier in aller Stille im Kreis der Betroffenen abgehalten. Nein, am liebsten wäre er jetzt weit weg. Am liebsten wäre er kein Priester. Aber seine Wünsche waren hier nicht gefragt; und der Gedanke daran, Nathanael Phillips am Tag nach der Massentrauerfeier beisetzen zu müssen, drückte ihn noch mehr nieder.
Kapitel 42
Je weiter die Zeiger der Uhr sich dem zweiten Gesprächstermin näherten, desto ärger wurde Brackmann von Zweifeln und Angst zermürbt. Er hatte noch einmal zwei Tabletten, insgesamt bis jetzt acht an diesem Tag,
Weitere Kostenlose Bücher