Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
die Schwarzarbeiter rekrutiert und bei der Arbeit kontrolliert hatte: 8 Euro vom Tageslohn oder 20 Cent pro Kiste. Im Durchschnitt verdienten die Hilfsarbeiter zwischen 500 und 600 Euro brutto im Monat, von denen sie 150 Euro für Kost und Logis abgeben mussten. Es blieb ihnen also fast kein Geld mehr, das sie ihren Familien nach Hause hätten schicken können. Dabei ernährten sie die Familie allein.
Schätzungen zufolge leben in Italien mindestens 70.000 Migranten unter ähnlichen Bedingungen. Wahrscheinlich sind es noch sehr viel mehr. Ein großer Teil dieser Taglöhner wird in ihren Heimatländern rekrutiert – »unter Vorspiegelung falscher Tatsachen«. Man verspricht ihnen ein besseres Leben und lässt sie einen gefälschten Arbeitsvertrag mit ebensolcher Aufenthaltsgenehmigung unterschreiben. Da fragt man sich doch spontan, wie Italien den Mut aufbringt, China zu kritisieren. Am erschütterndsten an dieser Geschichte aber ist zweifellos, dass es sich bei den »Tätern« um die Mitglieder einer Landwirtschaftsgenossenschaft handelt, die durchweg als unbescholten gelten und nicht vorbestraft sind. Also keine Spur von organisiertem Verbrechen, zumindest nach außen hin. Nunzia Penelope nämlich berichtet, die Staatsanwaltschaft gehe davon aus, dass der durch die illegalen Arbeiter erzielte Gewinn 10 Millionen Euro im Monat betrug. Dieses Geld, dessen Höhe im Voraus genau berechnet worden war, wurde auf der Stelle reinvestiert, und zwar in Immobilienspekulationen an der ionischen Küste. Und hier war die Mafia selbstverständlich als Vermittler im Spiel.
Erdöl – der wirtschaftliche Aspekt
Im Jahr 2003 wird auch Oberst Gaddafi wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen. Europa braucht ihn, um seine Energieversorgung zu sichern. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich das südliche Mittelmeergebiet an den Bedürfnissen des Nordens orientiert. Die Absolution wird Gaddafi zwei Jahre nach dem Anstieg der Erdölpreise auf Rekordhöhe erteilt (zunächst 100, dann 140 Dollar pro Barrel). Schuld an den hohen Preisen war unter anderem George Bushs »Krieg gegen den Terror«. Bis zum 11. September 2001 nämlich stagnierte der Preis bei 18 Dollar pro Fass.
Die Europäer lassen sich aus zwei Gründen auf Deals mit einem der schlimmsten arabischen Diktatoren ein. Da ist zum einen die Abhängigkeit vom saudischen Erdöl: Man fürchtet, ein Terrorangriff auf den Hafen von Ras Tanura, von wo aus 80 Prozent der Erdöllieferungen in See gehen, könnte den Export zum Erliegen bringen. Zum anderen steigt die Nachfrage der aufstrebenden Wirtschaftsmächte China und Indien ständig an. Also wird Gaddafi in den Kreis von Europas »Lieblingstyrannen« aufgenommen, zu denen auch der tunesische Präsident Ben Ali und der ägyptische Staatspräsident Mubarak gehören.
Damals wie heute gibt es stillschweigende Übereinkünfte zwischen ein paar geschickten arabischen Politikern und den Vertretern europäischer Demokratien. Das Beispiel Gaddafi zeigt, wie Erstere dazu kommen, sich sozusagen als Vizekönige der westlichen Staaten aufzuspielen, und wie Letztere ihnen die internationale politische Anerkennung verschaffen, die sie benötigen. Umso wichtiger ist es für beide Seiten, dass die politische Lage in den arabischen Ländern stabil bleibt. Khomeinis Revolution hat den Westen gelehrt, dass aufständische Bewegungen schnell ein feindliches Regime an die Macht bringen können. Man fürchtet, ein demokratischer Aufstand könne die gleiche Wirkung haben. Um dies zu verhindern, ist der Westen bereit, auch bei schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte beide Augen zuzudrücken.
Die Anschläge vom 11. September 2001 lieferten eine großartige Gelegenheit, neue Restriktionen durchzusetzen, die die bürgerlichen Freiheiten in einem großen Teil der Welt weiter beschneiden. Der Terrorismus der islamischen Fundamentalisten, eine zusätzliche Bedrohung für alle, hält Einzug ins politische Gefüge. Die arabischen Regime werden ob ihrer repressiven Politik gegenüber angeblichen Terroristen belobigt. Und als wäre das noch nicht genug, heuert der Westen sie im Rahmen der sogenannten Extraordinary Renditions, bei denen Terrorverdächtige in Länder überstellt werden, die beim Verhör nicht an Rechtsgrundsätze des Westens gebunden sind, sogar als willige Folterknechte an.
Die zwielichtige Gestalt Gaddafis war und ist die Galionsfigur für die Scheinheiligkeit des Westens.
14 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes
Im Jahr 2011
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