Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Steigbügelhalter des Imperiums – eine Führungsschicht mit neoliberalen wirtschaftlichen Vorstellungen und einem eindeutigen Hang zum autoritären Regime.
Nordafrika und Nordeuropa trennt kein »Gefälle« mehr, das ist schon eher ein Abgrund. Dies verdeutlicht uns der Ethnologe und Wirtschaftshistoriker Alfred Sauvy in seinem Buch L’Europe submergée : »Auf der einen Seite altern die Länder Nordeuropas in Sorglosigkeit und wachsendem Wohlstand, auf der anderen Seite nehmen die Länder Nordafrikas und ihr zentralafrikanisches Hinterland es gleichgültig hin, dass Jugend und Armut immer mehr werden.« Die europäischen Länder des Mittelmeerraums stehen noch dazwischen, befinden sich aber auf dem besten Weg, bald die unangenehme Lage ihrer arabischen Vettern teilen zu müssen: Der Lebensstandard sinkt, die Verteilungsungerechtigkeit wächst und mit ihr die sozialen Spannungen. Die Möglichkeit, unseren jungen Leuten eine Zukunft zu bieten, ist fast schon gleich null.
Wir haben ein wirtschaftliches und ein demografisches Problem zugleich. Hintergrund für die Aufstände in Nordafrika ist der Wunsch, durch einen politischen Wechsel eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme zu finden. Eben weil die Situation in den europäischen Mittelmeeranrainerstaaten ganz ähnlich ist, verwandelt sich der Sand der Mittelmeerküsten gerade in fruchtbaren Boden für den Samen der Demokratie.
15 Generalprobe für die Revolution: von Argentinien bis Tunis
Die Generalprobe für die Revolte in der arabischen Welt fand bereits zehn Jahre zuvor in Südamerika statt. Sie blieb nur unbemerkt, weil es damals noch keine sozialen Medien gab. Tatsächlich griff schon zu jener Zeit der Flächenbrand der Demokratie um sich, er brauchte nur einige Jahre, um den Ozean zu überspringen. Der Ablauf ist einfach und immer derselbe: Ein Teil der Bevölkerung verweigert sich dem neoliberalistischen Wirtschaftsmodell, das die Privatisierung von Staatsbesitz und den gleichzeitigen Rückschnitt der Ausgaben der öffentlichen Hand fordert.
Theoretisch gibt es gegen diese Forderungen zunächst einmal nichts einzuwenden: Der Vormarsch des Neoliberalismus beginnt, als der Wohlfahrtsstaat als solcher längst gescheitert ist. Die Kritik am alten Modell ist gewöhnlich gut fundiert. Die Sache hat nur einen Haken: Der Umbau wird von einer Elite vorgenommen, die das neue Modell zu ihrem Vorteil manipuliert. Die wirtschaftlich und politisch Mächtigen schmieden eine Allianz, um das neue Modell des Wirtschaftens voranzutreiben. Doch dieses Bündnis verkommt allmählich zur heimlichen Entente cordiale, die nur ein Ziel kennt: die eigenen Taschen zu füllen, statt Wirtschaftswachstum zu generieren und damit den Wohlstand der Bevölkerung zu mehren. Leider bleibt dies anfangs unbemerkt. Zum ersten Mal in der Geschichte scheinen Wirtschaft und Politik an einem Strang zu ziehen, was den Beifall der Bevölkerung findet, macht es doch den Eindruck, als würde sich endlich etwas ändern. Und es hat sich tatsächlich etwas verändert: Nun ist es nicht mehr der Staat, der in die Wirtschaft hineinregiert, sondern die Wirtschaft, die sich in staatliche Belange mischt mit der Begründung, diese Aufgaben angeblich besser erledigen zu können, dabei aber nur die Bürger stranguliert.
Statt die Demokratisierung der Wirtschaft durch fortschreitende Liberalisierung voranzutreiben, schreibt das neoliberalistische Credo die Macht der Eliten fest. Diese neue Herrscherkaste leitet das Wachstum um in den Geldbeutel eines winzigen Prozentsatzes der gesamten Menschheit: 1 Prozent der Weltbevölkerung streicht mehr als die Hälfte der Wertschöpfung ein. Eines der klassischen Symptome dieses Umlenkungsprozesses ist die Tatsache, dass die Einkommen immer weiter auseinanderdriften. Der Zauberformel aus den Tagen von Thatcher und Reagan haftet tatsächlich etwas Magisches an: Sie hilft, Wahlen zu gewinnen, zumindest wenn man sie richtig anzuwenden weiß. In wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht allerdings ist sie nur für Krisen gut: zuerst an den Rändern des Imperiums, später dann in dessen Zentrum.
Doch das werden die Bürokraten in den internationalen Organisationen nie zugeben. Ebenso wenig wie die Politiker, obwohl sie in den letzten Jahren mehr als einmal Zeugen ebenjener Finanzkrise wurden, die heute das Herz des Imperiums ereilt. 1994/95 trifft es Mexiko, 1998 Russland, 1997/98 die asiatischen Länder. Nachdem Argentinien den Zahlungsausfall erklären musste, reißt es auch
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