Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
verdanken haben.
Im Jahr 2008 übernahm wieder einmal Silvio Berlusconi die Rolle des Unterhändlers zwischen Europa und Gaddafi. Am 30. August unterzeichneten Italien und Libyen in Bengasi ein Abkommen. Der »Vertrag der Freundschaft« sieht Zusammenarbeit in Bereichen der Wirtschaft und der Sicherheitspolitik vor. Libyen verpflichtet sich, für die Abschiebung der illegalen Einwanderer zu sorgen, die von südlich der Sahara kommen. Weder die Nationalität der Migranten noch ihre Beweggründe spielen dabei auch nur die geringste Rolle. Gaddafi übernimmt also die Lösung des Einwanderungsproblems unseres demokratischen Europas mit undemokratischen Mitteln. Er hindert die Migranten auf seinem Staatsgebiet ganz einfach an der Weiterreise. Im Gegenzug schafft Italien die Infrastruktur (einschließlich militärischer Radaranlagen), mit Hilfe deren die südlichen Grenzen Libyens technisch gesichert werden sollen. All das für die bescheidene Summe von 300 Millionen Euro, die Italien und die EU in Gaddafis Kassen fließen lassen. Auch dieses Geld stammt natürlich aus den Taschen der Steuerzahler. Teil des Vertrags sind jene 5 Milliarden Dollar, die Italien als Wiedergutmachung für die in der Kolonialzeit in Libyen begangene Verbrechen entrichtet.
Die Resultate dieser Vereinbarung lassen nicht lange auf sich warten: Die Anzahl der Boote mit Flüchtlingen aus Afrika, die an den italienischen Küsten landen, sinkt 2009 und 2010 drastisch. Alle sind zufrieden: die Europäer, Berlusconi, der sich nicht mehr um das Einwandererproblem kümmern muss, und selbstverständlich auch Gaddafi. Niemand schert sich um das Schicksal der Aufgegriffenen. Europa überlässt diese Menschen einfach Oberst Gaddafi, dem es mit dem Vertrag freie Hand gegeben hat. Wie viele Menschen sind wohl einfach hingerichtet oder als Sklaven verkauft worden? Wie viele von ihnen waren vor politischer Unterdrückung in ihrem Land geflohen und hätten als politische Flüchtlinge folglich Anrecht auf Asyl gehabt? Diese Fragen sollten wir demokratischen Europäer den Politikern in Brüssel dringend stellen. Vielleicht wird uns dann endlich klar, was das für Leute sind, denen wir den Regierungsauftrag gegeben haben: Leute, die wohl keine Sekunde zögern würden, uns dem gleichen Schicksal zu überlassen wie die afrikanischen Migranten, um ihr eigenes politisches Überleben zu sichern.
Die Festung Europa ist alt und baufällig. Sie laboriert an ihren Schulden und ist besessen von ihrer Sicherheit. Sie verteidigt sich mit antidemokratischen Vereinbarungen, die unseren ureigensten Grundsätzen, den Menschenrechten, zuwiderlaufen. Und wir sind hinter ihren Mauern zu Hause.
Das Phänomen der illegalen Einwanderer hätte längst alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Nicht weil es unsere Ruhe stört, nein, vielmehr weil es ein Zeichen ist, wie die Wirtschaftspolitik der EU und der USA den Süden unterjocht. Im Mittelmeerraum konzentrieren sich Rohstoffe, technologische Kapazitäten, große Absatzmärkte und Arbeitskraft. Gleichzeitig aber handelt es sich um eine der Regionen unseres Planeten, wo das Ungleichgewicht zwischen Humankapital und materiellen Ressourcen am größten ist, was sich an der ungleichen Verteilung des Reichtums zeigt.
Mit dem Berliner Mauerfall und der EU-Osterweiterung entwickelte sich das Mittelmeer zur neuen Grenze zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern, zwischen der Großmacht und den Barbaren. Europa begann, den Blick zusehends nach Osteuropa zu richten. Dorthin fließen die Investitionen, dort soll Integration stattfinden. Je mehr sich Europa aber nach Osten öffnet, desto weniger interessiert es sich für den Süden. Tatsächlich sind die europäischen Investitionen in Nordafrika in den letzten zwanzig Jahren erheblich zurückgegangen.
Aus diesem Grund scheitern sämtliche Initiativen, durch einen Modernisierungsprozess für eine stärkere Anbindung des Maghreb sowie seines afrikanischen Hinterlandes an die EU zu sorgen. Von den MENA-Projekten (Middle East and North Africa) bis zur Union für das Mittelmeer (vormals Barcelona-Prozess), die dem südlichen Mittelmeerraum zu mehr Chancen verhelfen sollte, war bisher keine Strategie wirklich von Erfolg gekrönt. Der Westen interessiert sich offensichtlich nur für die Ausbeutung der Ressourcen der Mittelmeeranrainer. Dieses Ziel setzte er mit Hilfe diktatorischer Herrscher und deren Eliten durch. Wie wir gesehen haben, machte sich eine gierige Führungsschicht zum
Weitere Kostenlose Bücher