Der Fledermausmann
stürzen. Die Flakschützen wußten, daß jeder Schuß treffen mußte, und manchmal dauerten die Luftangriffe den ganzen Tag. Mein Vater hat mir das gleichmäßige Dröhnen der Kanonen und das hohe, schrille Pfeifen der im Sturzflug herunterrasenden Flugzeuge beschrieben. Er sagte, er habe dieses Geräusch sein ganzes Leben lang jede Nacht aufs neue gehört.
Am letzten Tag des Angriffs hatte er auf der Brücke gestanden, als sie sahen, daß es einem der Flugzeuge gelungen war, das Sperrfeuer zu durchdringen und dieses geradewegs auf sie zu stürzte. Die Schiffskanonen donnerten los, während sich das Flugzeug langsam näherte. Es schien still am Himmel zu stehen und lediglich von Sekunde zu Sekunde ein wenig zu wachsen. Schließlich konnten sie deutlich das Cockpit unddarin die Umrisse eines Piloten erkennen. Die Granaten des Flugzeugs begannen gerade in das Deck einzuschlagen, als die ersten Flakgranaten des Schiffes trafen. Sie zerfetzten die Flügel und den Rumpf des Flugzeuges. Das Heck flatterte weg und ganz langsam, wie in Zeitlupe, löste sich das Flugzeug in seine Bestandteile auf. Schließlich klatschte nur ein kleiner Teil des Propellers mit einem Schweif aus Feuer und Rauch auf das Deck. Die anderen Flakschützen waren bereits wieder dabei, ein neues Ziel anzuvisieren, als einer aus der Flakstation unterhalb der Brücke, ein junger Korporal, den Vater kannte, weil er wie er aus Wellington stammte, aufstand, herauskletterte, Vater lächelnd zuwinkte und sagte: ›Es ist heiß heute.‹ Mit diesen Worten sprang er über die Reling und verschwand.«
Vielleicht war es das Licht, aber Harry schien es, als wenn McCormack mit einem Mal alt aussehe.
»Es ist heiß heute«, wiederholte McCormack.
»Die Natur des Menschen ist ein großer, dunkler Wald, Sir.«
McCormack nickte.
»Das habe ich früher schon einmal gehört, Holy, und das ist verdammt wahr. Sie haben sich gut kennengelernt, Kensington und Sie, soviel habe ich begriffen. Und auch, daß einige fordern, daß Andrew Kensingtons Rolle in diesem Fall untersucht wird. Was meinen Sie, Holy?«
Harry blickte auf seine dunkle Hose hinab. Sie war verknittert von der langen Zeit im Koffer, und die Bügelfalte war schief. Die Beerdigung sollte um zwölf Uhr stattfinden.
»Ich weiß nicht, was ich meine, Sir.«
McCormack stand auf und begann seine Runde vor dem Fenster, die Harry mittlerweile kannte.
»Ich bin mein ganzes Leben Polizist gewesen, Holy, aber noch immer betrachte ich meine Kollegen und frage mich, was die Menschen dazu bringt, das zu tun, anderer Leute Kriege auszufechten. Was treibt sie an? Was sind das fürMenschen, die bereit sind, so viele Leiden zu ertragen, nur damit anderen das zuteil wird, was sie als Gerechtigkeit betrachten? Das sind die Dummen, Holy. Wir. Wir sind mit einer Dummheit gesegnet, die so groß ist, daß wir tatsächlich glauben, etwas erreichen zu können.
Wir werden in der Luft zerfetzt, zerstört, und eines Tages springen wir ins Meer, aber bis dahin glauben wir in unserer grenzenlosen Naivität, daß wir von jemandem gebraucht werden. Und wenn wir uns dann doch eines Tages dieser Illusion bewußt werden, ist es bereits zu spät, denn wir sind Polizisten geworden, dann stehen wir bereits in den Schützengräben und können nicht mehr zurück. Wir können uns nur fragen, was zum Teufel geschehen ist, wann wir schlußendlich den großen Fehler gemacht haben. Wir sind dazu verurteilt, unser Leben lang do-gooders zu sein – und zu scheitern. Aber die Wahrheit ist glücklicherweise eine verdammt relative Sache. Und sie ist flexibel. Wir beugen und biegen sie so zurecht, daß sie in unserem Leben Platz findet. Jedenfalls ein Teil davon. Manchmal reicht es, einen Verbrecher festzunehmen, um ein bißchen Seelenfrieden zu bekommen. Aber jeder weiß doch, daß es nicht gerade gesund ist, sein ganzes Leben lang Ungeziefer auszurotten. Man bekommt sein eigenes Gift zu spüren.
Worum geht es also, Holy? Der Mann hat sein ganzes Leben lang in dem Flakturm gestanden, und jetzt ist er tot. Was soll man da noch sagen? Die Wahrheit ist relativ. Es ist für diejenigen, die es nicht erlebt haben, nicht so leicht zu begreifen, wie extreme Belastungen einen Menschen verändern können. Wir haben Gerichtspsychiater, die versuchen eine Grenzlinie zwischen den Kranken und den Kriminellen zu ziehen, und die biegen die Wahrheit so lange zurecht, daß sie in ihre theoretische Modellwelt paßt. Wir haben ein Rechtssystem, von dem wir im besten
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