Der Fliegende Holländer
und bemerkte, daß sie allmählich etwas überreizt reagierte. Eine überreizt reagierende Buchhalterin ist – wie die Universität von Hull – ein Widerspruch in sich. Trotzdem schrie sie: »Also wollen Sie in Wirklichkeit sterben, stimmt’s?« Dann schwieg sie, hauptsächlich weil sie auf einmal außer Atem geraten war.
Vanderdecker grinste sie an, dann antwortete er: »Ja, mehr als alles andere auf der Welt. Ginge es Ihnen in meiner Lage nicht genauso?«
Ihre Blicke trafen sich, und vierhundert Jahre eines rastlosen, qualvollen Daseins schienen Jane anzusehen; vierhundert Jahre voller Wochen ohne Wochenenden, ohne Feiertage, ohne vierzehntägige Urlaubsaufenthalte in der Toskana, ohne Weihnachten, ohne Geburtstage, sogar ohne abends nach Hause zu kommen, sich die Schuhe auszuziehen und sich einen guten Film anzuschauen. Nur Millionen völlig identischer Tage ohne irgendeine Abwechslung. Sie sagte die ganze Zeit nichts mehr, und erst als sich der Hubschrauber schon lange mit lautem Getöse entfernt hatte, setzte sie sich und begann jämmerlich zu weinen, bis ihr die Wimperntusche über die Wangen lief.
Vanderdecker neigte normalerweise nicht dazu, für alles, das ihm beschert wurde, dankbar zu sein – nicht, weil er ein ungewöhnlich trübsinniger Mensch war, sondern weil er es einmal versucht hatte, und das nicht länger als zwei Sekunden durchgehalten hatte.
Trotzdem gibt es da etwas, wofür ich zweifellos dankbar sein kann, sagte er sich, während der Hubschrauber durch den wolkenverhangenen Himmel dröhnend in Richtung Schottland flog; ich hab nämlich die letzten vierhundert Jahre wenigstens nicht in einem dieser furchtbaren Dinger verbringen müssen. Verglichen mit dieser in der Luft befindlichen Küchenmaschine, ist die Verdomde eine Unterkunft erster Klasse.
Die Reise war nicht ohne Zwischenfälle verlaufen. Zum Beispiel war Vanderdecker so sehr in Gedanken vertieft gewesen, daß er nicht bemerkt hatte, wie Sebastian ganz raffiniert die Tür geöffnet hatte und hinausgesprungen war, während sie über den Lake District geflogen waren. Hätte Sebastian nicht laut ›Jetzt geht’s los!‹ gebrüllt, als er sich in die Luft stürzte, wäre sein Verschwinden wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen, und es hätte noch länger gedauert, ihn wiederzufinden, als es sowieso schon gedauert hatte. Als es ihnen schließlich gelang, ihn nach mehrmaligem Abfliegen des Lake Coniston zu lokalisieren, steckte er mit dem Kopf zuerst in einem hohlen Baumstumpf, und sie mußten Äxte benutzen, um ihn wieder freizubekommen.
Außerdem war da noch das Geruchsproblem. Obwohl sie sich hoch am Himmel befanden, verursachten sie am Boden eine Woge der Entrüstung, gepaart mit allgemeinem Unwohlsein, und sie mußten die Randgebiete größerer Orte umgehen, um eine Massenpanik zu vermeiden. Trotzdem wäre ein Transporthubschrauber der Armee, mit dem sie kurz zuvor ein paar Hunderttausend Kubikmeter Luftraum geteilt hatten, beinahe an einem Berghang des Penninischen Gebirges zerschellt.
Doch keine dieser trivialen Aufregungen reichte aus, um den Fliegenden Holländer vom Grübeln abzuhalten. Ihm wurde klar, daß er vor einem Dilemma, vor einem wirklichen Interessenkonflikt stand. Einerseits bestand die Möglichkeit, daß sein fast lästig langes Leben bald ein Ende finden würde, und obwohl er sich selbst zugute hielt, ein den Umständen entsprechend ausgeglichenes und gesundes Individuum zu sein, wäre das bestimmt nicht die schlechteste Lösung gewesen. Das Leben war zu einer einzigen langweiligen Stehparty geworden, und es war höchste Zeit, sich höflich zu verabschieden und zu gehen. Aber das Problem war das große Problem jeder langweiligen Stehparty – gerade dann, wenn man eine Möglichkeit gefunden hat, sich unauffällig zu verdrücken, ohne an zusammengeknoteten Tischtüchern aus dem Fenster klettern zu müssen, begegnet man Leuten, mit denen man sich gern unterhalten möchte. Kaum hat man diese Leute kennengelernt und unterhält sich mit ihnen, ist es Zeit zu gehen, weil die Gastgeberin vorbeikommt, allen Leuten die Gläser aus der Hand reißt und die Musik abstellt.
Das Problem menschlichen Lebens ist – wenn es wesentlich länger dauert, als es sollte – die Langeweile. Wenn es langweilig ist und man nichts zu tun hat, macht es keinen Spaß. Gerade jetzt hatte Vanderdecker jedoch das beklemmende Gefühl, daß sein Leben wesentlich weniger langweilig war, als es eine ganze Reihe von Jahrhunderten lang
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