Der Fliegende Holländer
vielleicht im Schnelldurchlauf erzählen darf: Aus dem Hause Fugger wurde Fugger und Co., daraus wiederum die Lombard National Bank, aus der schließlich die National Lombard Bank Public Limited Company hervorging. Der Name hat sich zwar geändert, aber der Strumpf ist sozusagen immer noch der gleiche. Im Grunde wäre sogar die Annahme entschuldbar, der Strumpf sei das einzige wirklich unsterbliche Wesen auf der Welt. Aber diese Annahme wäre falsch.«
Mr. Gleeson machte eine Pause und öffnete die oberste Schreibtischschublade, aus der er eine Packung Vollkornkekse hervorholte. Er bot Jane einen Keks an – sie lehnte dankend ab – und aß schließlich selbst einen. Nachdem er den Mundraum von allen Krümeln befreit hatte, setzte er seine Ausführungen fort.
»Wir kehren wieder ins sechzehnte Jahrhundert zurück. Wir befinden uns in Cádiz, einem der bedeutendsten Seehäfen der Welt. ›Wer Cádiz satt hat, hat auch das Leben satt‹ und so weiter. Natürlich hat Fugger in der Hauptstraße eine Filiale, die niedrige Überziehungszinsen, Hypotheken, Darlehen, Schiffsverpfändungsverträge – was immer das ist – sowie die unvermeidliche Lebensversicherung anbietet. Es ist ein Donnerstag.
Die Fugger-Filiale wird von einem relativ wohlhabenden Schiffskapitän, Anfang Dreißig, betreten. Er macht sich erhebliche Sorgen um die mit seinem Beruf verbundenen Risiken, da die Meere mittlerweile voll von englischen Piraten sind, und deshalb will er für sein Schiff eine Versicherung abschließen. Das ist ganz natürlich, da er mit dem Schiff seinen Lebensunterhalt verdient, und wenn ihm jemand mit einer Kanone eine Kugel vor den Bug knallt, dann ist unser Kapitän arbeitslos.
Der Filialleiter dieser Fuggerschen Zweigstelle kennt die grundlegenden Lehrsätze seines Gewerbes ganz genau, und die Grundregel bei Versicherungen lautet: ›Keine hohen Risiken eingehen‹ – so nennt übrigens der Versicherer eine Knalltütenwette, wenn er sie angeboten bekommt. In diesem Fall besteht die begründete Gefahr, daß tatsächlich das eintritt, wovor sich der Kapitän so sehr fürchtet. Daher muß der Filialleiter zu seinem großen Bedauern eine Versicherung des Schiffs ablehnen. Aber er ist ein Mann, der nie etwas unversucht läßt, denn es schmerzt ihn sehr, wenn jemand die Filiale verläßt, ohne wenigstens eine kleine Wette abgeschlossen zu haben. Also weist er den Schiffskapitän darauf hin, daß es niemals ein Fehler sein könnte, eine nette kleine Lebensversicherung abzuschließen.«
Mr. Gleeson hielt erneut inne, und Jane bemerkte zu ihrem Erstaunen, daß er leicht zitterte. Janes erstaunliche Beobachtung mußte wiederum Mr. Gleeson aufgefallen sein, denn er lächelte verlegen.
»Haben Sie noch etwas Geduld, denn jetzt kommt die beste Stelle«, bat er Jane. »Ich erinnere mich noch genau an den Augenblick, als man sie mir zum erstenmal erzählt hat. Von Rechts wegen hätte ich davon natürlich nie etwas erfahren dürfen. Die Geschichte wird nämlich unter den leitenden Direktoren des Hauses Fugger – oder wie immer man es gerade nennt – von Generation zu Generation weitergegeben. Zum Glück sind die leitenden Direktoren der Bank stets im eigenen Bett unter genauer Beobachtung durch medizinische Experten gestorben, so daß immer noch Zeit genug für die Überlieferung der Geschichte war. Mir selbst ist sie ganz zufällig zu Ohren gekommen, was man durchaus als einen vollständigen Bruch mit der Tradition bezeichnen könnte. Ich hab nämlich mit dem Sohn des damaligen leitenden Direktors zusammen in Oxford studiert und einmal gemeinsam mit seiner Familie einen längeren Urlaub verbracht. Wir gingen alle zusammen auf eine ziemlich wilde Jagd, und da passierte ein furchtbarer Unfall – der alte Mann wurde niedergeschossen. Es blieb keine Zeit, einen Arzt zu holen, deshalb drehte er sich einfach um und stieß mit seinen letzten Atemzügen die ganze schreckliche Geschichte hervor. Ich war zufällig dabei und hab natürlich alles mitbekommen. Ich hatte zu der Zeit noch nicht einmal die Ausbildung abgeschlossen, wurde aber selbstverständlich sofort Chefbuchprüfer der Bank, so wie man meinen Freund vom Fleck weg als leitenden Direktor einsetzte, alles nur aufgrund dessen, was wir gehört hatten. Das zugrunde liegende System besteht nämlich darin, daß zwar der gesamte Vorstand von der Existenz eines Geheimnisses weiß, aber lediglich der leitende Direktor das Geheimnis auch kennt. Dasselbe System hab ich bei Moss Berwick
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