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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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man auf Stand-by schalten kann, sodass das Gerät fast, aber nicht ganz ausgeschaltet ist!
    Auch mein Bewusstsein sollte fast ausgeschaltet sein. Denn Corkerdale hatte die Theorie, dass sich das Bewusstsein am besten selber heile, wenn man es ganz in Ruhe ließ. Und die Medikamente, erklärte er, seien nur das Mittel, um mein Bewusstsein von Druck, Stress und Angst zu befreien.
    Deshalb hielt ich diese Zeit für vergeudet; die Zeit, als ich nur ein heruntergeschalteter Fernseher war, eine angehaltene Uhr. Als ich nichts war. Als mein Leben zum Stillstand gebracht worden war. Einfach nur leere Zeit, in der nichts passierte.
    Aber damals wusste ich das nicht. Wie hätte ich es auch wissen können.
    Irgendwann hieß es dann, ich müsse unbedingt Gymnastik machen. Aber ich hatte keine Lust. Es machte mir nicht mal was aus, dass ich wieder dick wurde. Ich wollte einfach nur im Bett liegen bleiben.
    Sie baten meine Mam, mir gut zuzureden. Und meine Mam sagte, jetzt, wo das Wetter wieder wärmer werde, könnten wir doch ein bisschen im Park spazieren gehen. Und nur weil meine Mam mich begleitete, war ich dazu bereit.
    Als er mich das erste Mal sah, war sie bei mir. Er musste sie also auch gesehen haben. Sonst hätte er mich ja gar nicht erkannt. Aber meine Mam sah ihn nicht. Er versteckte sich nämlich schnell hinter dem Kastanienbaum. Und als wir vorbeigingen, sah ich, dass er hinter dem Baumstamm hervorlugte und uns beobachtete. Ich wusste nicht, ob er wirklich existierte. Manchmal hielt ich ihn für den Mann, der im Kastanienbaum lebte. Er war immer da und spähte jedes Mal hinter dem Baum vor, wenn meine Mam und ich vorbeikamen. Und manchmal dachte ich doch wieder, er sei real. Deshalb zupfte ich meine Mam am Ärmel und zeigte hin. Aber gleich darauf hielt ich es wieder für ein Hirngespinst, denn als meine Mam hinsah, war er verschwunden.Wenn meine Mam hinschaute, war er nie zu sehen, der Mann, der im Kastanienbaum lebte; der Mann mit den warmen, sanften Augen, der jedes Mal hinterm Baumstamm hervorspähte, wenn meine Mam mit mir vorbeikam.
    Wenn mich statt meiner Mam aber eine Krankenschwester begleitete, trat er hinter dem Baum vor. Dann winkte er mir immer lächelnd zu, wenn ich vorbeiging. Aber ich konnte nie lächeln oder zurückwinken, weil meine Lider immer noch schwer wie Sandsäcke waren und mein Hirn wie aus Watte, und meine Beine fühlten sich an, als watete ich durch einen tiefen, dunklen, breiten Strom.
    Erst als es mir langsam besser ging, weil Dr. Corkerdale die Dosis reduzierte, merkte ich, dass es den Mann wirklich gab; dass er der Gärtner war, der sich um den Park von Swintonfield kümmerte.
    Und eines Tages kam er direkt auf mich zu; eines Tages ging er neben mir und der Krankenschwester her. Er deutete auf mich und formte mit den Fingern irgendwelche Zeichen. Die Schwester nickte lächelnd und antwortete ihm, als habe er ihr eine Frage gestellt: »Raymond. Genau, Raymond; unser Neuzugang, der junge Raymond Marks.«
    Er nickte lächelnd. Aber dann sah es aus, als kämpfe er mit den Tränen. Er öffnete den Mund zum Sprechen. Aber es kamen nur verstümmelte, erstickte Laute raus, als ringe er um Luft. Seine Augen leuchteten warm, aber seine Stimme machte mir solche Angst, dass ich stehen blieb und die Hand der Schwester umklammerte. Aber sie sagte: »Schon gut, Raymond, du brauchst keine Angst zu haben. Er will dir nur hallo sagen und nett zu dir sein. Nicht wahr, John?« Er stand da und nickte, während die Schwester mich beruhigte und mir versicherte, dass mir der Gärtner bestimmt nichts tun werde. Er könne nur nicht mehr sprechen, sagte sie; man habe ihm die Stimmbänder entfernt.
    »Aber wenn du schon so lange hier wärst wie ich, Raymond«, fuhr die Schwester fort, als wir uns wieder in Bewegung setzten, »dann würdest du seine Zeichensprache und sein Gekrächze verstehen; nicht wahr, John?« Er nickte. Und dann gingen wir zu dritt weiter.

    Später, Morrissey, als die Medikamentendosis schon seit Wochen herabgesetzt war, ohne dass es wieder zu einer manischen Phase mit wirrem Geplapper gekommen war und ohne dass ich versucht hatte, mich aus dem Fenster zu stürzen, durfte ich auch allein im Park spazieren gehen. Und von da an sah ich John den Gärtner jeden Tag. Ich mochte ihn. Wir saßen vor seiner Hütte hinter dem großen Kastanienbaum und tranken gezuckerten Tee mit wenig Milch. Und die Schwester hatte ganz Recht gehabt. Denn obwohl er keine Stimme mehr hatte, lernte ich sein Gekrächze

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