Der Fliegenfaenger
so sitze, Morrissey, denke ich die ganze Zeit, dass es sinnlos und sentimental ist, jetzt im »Was-wäre-gewesen-wenn« herumzuwühlen. Denn eigentlich war mein Dad ja nie mein richtiger Dad. Ich hab ihn gar nicht gekannt. Die Dewsbury Desperadoes kannten ihn besser als ich. Wenn ich je einen richtigen Dad gehabt habe, dann war das meine Oma; sie ist wie ein Dad für mich gewesen. Sie hat mir alles Wichtige beigebracht. Zum Beispiel das mit dem Selbstmitleid und den Kartoffeln. Und deshalb kann ich hier nicht länger rumhocken, voll trauriger Erinnerungen an einen Dad, den ich nie hatte, und voller Trauer über sein Leben.
Ich bin ohne ihn aufgewachsen. Daran lässt sich nichts mehr ändern. Meine Oma sagte immer, das Verlangen nach etwas, das er nie bekommen konnte, hat die Seele meines Vater in die falsche Richtung gelenkt.
»Das Leben vieler Menschen, Raymond«, sagte sie immer, »das Leben vieler Menschen besteht nur aus Frustration und Verzweiflung, weil sie das wollen, was sie nicht kriegen können. Schau mich an! Meinst du nicht, dass ich lieber Simone de Beauvoir oder Daphne du Maurier gewesen wär? Natürlich. Das hätte mir sogar sehr gefallen – all diese Teegesellschaften draußen auf dem Rasen und die Lakaien, die mir die Rinde vom Brot abschnitten. Das hätte mir allerdings gefallen, Raymond. Aber es war nicht vorgesehen, mein Junge; ich war nun mal nicht Daphne du Maurier. Und ich konnte es auch nie werden. Also musste ich versuchen, die beste Vera Bradwell zu sein, die ich sein konnte.«
Und meine Oma hatte Recht; das wusste ich. Ich wusste, dass mein Dad sein ganzes Leben damit verbracht hatte, sich etwas zu wünschen, das er unmöglich erreichen konnte. Und deshalb hat er nie das Leben gelebt, das ihm geschenkt worden war.
Ich weiß, was ich zu tun hab, Morrissey; ich muss weiterziehen; mich wieder an die Autobahn stellen, um nach Grimsby zu kommen.
Und ich muss versuchen, der beste Raymond Marks zu sein, der ich sein kann.
Mit freundlichen Grüßen
Raymond Marks
17. Juni 1991
Ein Unterstand,
Strandpromenade,
Cleethorpes,
Lines
(Montagmorgen)
Lieber Morrissey,
manchmal frag ich mich, was aus mir geworden wär, wenn ich mich so wie die andern entwickelt hätte; wenn ich einfach ein ganz normaler Mensch geworden wär, wie die Darren Duckworths und die Geoffrey Weatherbys, die Kevin Cowleys, Albert Goldbergs und so weiter.
Manche von ihnen sehe ich gelegentlich in der Stadt, vor allem die, die arbeitslos sind. Manchmal grölen sie mir irgendwas zu, besonders wenn sie auf einer Bank zusammenhocken oder vor einem Getränkekiosk rumlungern. Sie rufen so blödes Zeug wie: »Hey Marks! Suchst du Spencer?«
Das finden sie dann zum Brüllen komisch. Manchmal grölen sie auch »Psycho!« oder »Spasti!« oder »Mongo!«. Und wenn sie in absoluter Hochform sind, johlen sie: »Guckt mal, da kommt der retardierte Raymond!«
Ich ignoriere sie einfach. Und meistens ignorieren sie mich auch. Als stammten wir von zwei verschiedenen Planeten.
Manche wie etwa Geoffrey Weatherby studieren irgendwo. Andere haben Jobs, arbeiten in einer Bank oder Bausparkasse. Manchmal sehe ich sie in Failsworth und Umgebung. Wir schauen uns nicht an. Sie werden bei meinem Anblick nervös; ich könnte ja auf die Idee kommen, sie anzusprechen. Das wär ihnen schrecklich peinlich, weil sie dann ja so tun müssten, als würden sie mich nicht kennen, oder noch schlimmer, sie müssten womöglich stehen bleiben – mit ihren Unisexfrisuren, ihren abgewetzten Jeans und ihren Hushpuppy-Mokassinimitaten – und Angst haben, dass jemand sie mit mir zusammen sieht!
Sie ahnen ja nicht, dass mir das noch viel viel peinlicher wär! Um nichts in der Welt möchte ich dabei gesehen werden, wie ich mich mit so grauenhaft normalen Leuten unterhalte.
Deshalb hat es mir nie was ausgemacht, wenn sie einfach an mir vorbeigingen. Eigentlich war ich sogar jedes Mal froh drüber! Selbst bei Geoffrey Weatherby. Und als er mir eines Tages mit seiner Freundin im Einkaufszentrum entgegenkam – sie hielten sich lachend umschlungen – und plötzlich stehen blieb, da wär es mir wirklich lieber gewesen, er wäre weitergegangen, hätte mich ignoriert und so getan, als ob er mich gar nicht kennen würde.
Aber plötzlich ließ er seine Freundin vor WH Smith’s stehen und kam zu mir her.
Er nickte mir zu und fragte mich, wie es mir gehe. Ich zuckte die Achseln. Ich wusste wirklich nicht, warum er stehen geblieben war. Er hatte ja kein Wort mehr mit
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