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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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Manchmal tauchte er nach Einbruch der Dunkelheit am Fenster auf, winkte mir zu und rief, ich solle mitkommen. Deshalb bat ich die Nachtschwestern, die Vorhänge richtig zuzuziehen, richtig, richtig zu, nicht halb zu, nicht halb offen, nicht mit Schlitzen, Spalten und klaffenden Lücken, nicht so, dass sie sich in der Mitte nicht ganz trafen; nein, zu, zu, zu, richtig zugezogene Vorhänge, damit der Mann mit dem verkehrten Kopf nicht hereinsschauen konnte.
    Aber die Nachtschwestern verstanden es nicht. Manchmal fuhren sie mich gereizt an: »Um Himmels willen, Raymond, lass uns doch endlich mit diesen verdammten Vorhängen in Ruhe! Sie sind zu, sie sind zu, sie sind ganz zu! Schau doch hin.«
    Aber sie waren nicht zu!
    Und ich lag nächtelang wach und wusste, dass er mich beobachtete, der Mann mit dem verkehrt rum sitzenden Kopf.
    Ich glaube, deshalb war ich auch die ganze Zeit so müde. Deshalb wollte ich nicht aufstehen; ich kam ja nachts nie zum Schlafen, wegen der Geräusche, mit denen das Rübenkraut aus der Wand wuchs, und wegen dem Mann, der mich durch die Schlitze im Vorhang anstarrte.
    Jetzt weiß ich es, Morrissey, jetzt weiß ich natürlich, dass sich das alles nur in meinem Kopf abspielte und dass ich Dinge sah, die gar nicht existierten. Manchmal auch schöne Dinge. Es kam zum Beispiel vor, dass ich meine Oma sah und sie hatte Jaffakekse, eine Flasche voller Löwenzahn und Kletten und eine Tüte mit gefüllten Waffeln bei sich. Und ich wusste, dass sie mich abholte, um etwas mit mir zu unternehmen, so wie früher, als ich noch klein war und wir zum Picknick auf irgendeinen Friedhof in Groß-Manchester fuhren.
    Das gefiel mir; wenn ich schöne Dinge sah, wenn ich Menschen wie meine Oma sah oder meine Freunde.
    Manchmal, wenn ich aufblickte, saßen Twinky und Norman am Fußende meines Betts; sie lächelten mich an und erzählten mir, dass sie bei Petula Clark Tee getrunken hätten.
    Und einmal sagten sie sogar, dass sie übers Wochenende nach Failsworth zurückgefahren seien, um Twinkys Mam zu besuchen. Die hätte einen schlimmen Schock erlitten, weil ihr Cockerspaniel von einem Call-a-Pizza-Lieferwagen überfahren worden sei. Und als sie ankamen, sagte Norman, habe ganz Failsworth darüber gesprochen.
    Ich dachte, er meine den Hund von Twinkys Mam. Aber Twinky sagte, dem Hund gehe es gut, der habe sich nur ein Bein gebrochen.
    Es war nicht der Hund, über den ganz Failsworth sprach; es waren die Neuigkeiten! Man hatte Paulette Pattersons Vater verhaftet und es hieß, das sei schon jahrelang so gegangen; vor Paulette seien es ihre älteren Schwestern gewesen. Bis die älteste Schwester, die jetzt verheiratet war, endlich beschlossen hatte, ihr Schweigen zu brechen.
    Das erzählten mir also Twinky und Norman oder ich glaubte zumindest, dass sie es mir erzählten. Deshalb war ich anfangs auch froh, weil jetzt endlich alle wussten, dass ich es nicht getan hatte, dass ich dem kleinen Mädchen nie etwas angetan hatte. Vielleicht konnten wir ja jetzt wieder nach Failsworth zurück, ich und meine Mam. Das sagte ich auch zu Twinky und Norman, aber als ich aufschaute, war niemand mehr da. Twinky und Norman waren verschwunden. Und da wurde ich traurig, weil es wohl wie mit dem Rübenkraut war und ich mir das alles nur eingebildet hatte.
    Und als dann meine Mam am Bettrand saß und mir von dem kleinen Mädchen das Gleiche erzählte, was ich schon von Twinky und Norman gehört hatte, achtete ich gar nicht mehr drauf, sondern starrte bloß aus dem Fenster und wartete, bis sie wieder verschwand; ich hörte gar nicht recht zu, als sie sagte, sie habe sich beim Wohnungsamt erkundigt, ob wir vielleicht wieder von Wythenshawe nach Failsworth umziehen könnten, wo wir doch schließlich hingehörten. Ich starrte nur aus dem Fenster und fragte mich, ob die Nachtschwester heute dran denken würde, die Vorhänge richtig zu schließen.

    Ich weiß nicht genau, wie lange ich auf der Station in Swintonfield war, ich weiß nur noch, dass ich im Winter dort eingeliefert wurde. Und als ich wieder raus durfte, war der Sommer fast vorbei.
    Und weißt du, was ich immer dachte, Morrissey? Dass die Zeit in Swintonfield ein vergeudeter Abschnitt meines Lebens war. Als täte sich da eine Lücke auf.
    Dr. Corkerdale sagte zu meiner Mam, er wolle mein Bewusstsein auf einem möglichst niedrigen Aktivitäts- und Funktionsniveau halten. Wie eines dieser modernen Fernsehgeräte, erklärte er meiner Mam begeistert, eines dieser Fernsehgeräte, die

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