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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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Pimmel ein paar Fliegen gefangen hätte!«
    Meine Mam sagte, sie sei knallrot geworden. Aber Dr. Janice schien gar nicht drauf zu achten und fuhr, immer noch wütend, fort: »Aber für Sie, Shelagh, ist dieser Schulleiter über jeden Zweifel erhaben, stimmt’s? Ja! Weil Sie ständig in Angst gelebt haben! Sie haben ja genau auf so einen Vorfall gewartet! Weil sie schon viele Jahre lang mit der Angst herumlaufen, dass Raymonds Vater geisteskrank gewesen sei. Und all diese Jahre haben Sie gewartet … auf irgendein Anzeichen, dass auch Raymond vielleicht … nicht ganz richtig im Kopf ist. Und als er wegen dieser Fliegensache Ärger kriegt, sind Sie fast erleichtert, weil sich die jahrelange Angst endlich bestätigt. Es gibt natürlich keinerlei Zusammenhang. Es gibt nicht den mindesten Zusammenhang. Aber das ist Ihnen egal, Shelagh, weil Sie voller Angst sind, und der klebrige Leim der Angst pappt alles zusammen. Sie nehmen diese Sache mit dem Fliegenfangen« – Janice hob die geballte Hand, als habe sie etwas darin, und meine Mam saß da und starrte auf diese Faust voll schmuddeliger Vorgänge am Kanal – »und was tun Sie damit, Shelagh?« Jetzt hob Janice die andere Hand und sagte zu meiner Mam: »Sie kleistern sie da dran. Sie verbinden diese Sache mit der Familienangst, wozu sie jedoch nicht passt. Sie verbinden diese Sache mit dem exzentrischen Wesen Ihres Mannes, wozu sie ebenfalls nicht passt! Und als Nächstes kleistern Sie dann alles Mögliche zusammen, Shelagh. Ihr Sohn sagt was Unanständiges zu seiner Kusine. Völlig harmlos! So etwas haben Kinder schon immer gemacht! Aber das sehen Sie nicht, Shelagh. Nein, für Sie passt es genau ins Bild. Sie sehen plötzlich einen Jungen vor sich, der unbedingt zum Psychotherapeuten muss. Sie sehen Schweinereien und moralische Verderbtheit, Sie sehen einen Sohn, der geistig offenbar noch viel schwerer gestört ist, als es sein Vater je war. Und wenn Ihr Sohn in den Kanal springt, sehen Sie natürlich einen Sohn, der sich umbringen wollte.«
    Meine Mam und Janice starrten einander an. Meine Mam war ganz verwirrt und Janice atmete schwer.
    Und dann fragte meine Mam sehr leise: »Ja, wollte er das denn nicht? Hat er denn nicht versucht, sich … umzubringen?«
    Dr. Janice schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »meiner Ansicht nach nicht.«
    Und da sei sie vor lauter Erleichterung in Tränen ausgebrochen, sagte meine Mam.
    »Was er getan hat, war sehr gefährlich«, fuhr Dr. Janice fort, »und es hätte durchaus … Aber wenn wir hier über Vorsatz reden – nein. Ich glaube keine Sekunde, dass Raymond sich umbringen wollte. Auf seine Art hat er sogar ganz … rational gehandelt, indem er nach einer Möglichkeit suchte, wieder zu einem netten Jungen zu werden.«
    Meine Mam seufzte und tupfte sich mit ihrem Taschentuch die Augen. Und dann fragte sie Dr. Janice: »Wird er so etwas je wieder tun?«
    Dr. Janice sah meine Mam an und meinte: »Shelagh, ich bin Psychiaterin, keine Prophetin.«
    Meine Mam nickte nur. Und dann sagte Janice: »Na ja, als Psychiaterin sollte ich das eigentlich gar nicht sagen … aber … nein, ich glaube nicht, dass er es noch einmal tun wird. Vorausgesetzt … Sie können ihm klarmachen, dass Sie ihm … nicht mehr böse sind. Mit etwas Glück kommen Sie und Raymond bestimmt drüber weg.«
    »Und dieses wirre Gerede gestern Abend«, sagte meine Mam, »dass er gesagt hat, er sei gar nicht mein Sohn … er sei der Falsche Junge …«
    Jetzt stand Janice lächelnd auf und geleitete meine Mam aus dem Sprechzimmer in den Korridor. Und während sie nebeneinander hergingen, sagte Dr. Janice zu meiner Mam: »Kennen Sie die Comics, in denen er immer schmökert, seine Marvel -Comics? Haben Sie da mal reingeschaut?«
    Meine Mam schüttelte den Kopf.
    »Das sollten Sie gelegentlich tun«, sagte Janice. »Da wimmelt es nur so von Figuren mit zwei Gesichtern, Figuren, die mutieren, Figuren, von denen eine andere Persönlichkeit Besitz ergreift, Figuren, die von zwei Mächten beherrscht werden, dem Guten und dem Bösen. Ich behaupte nicht, dass er das ganz bewusst so einem Comic entnommen hat. Aber wenn man sich mal Raymonds Phantasie anschaut, kann man leicht nachvollziehen, wie es zu dieser Vorstellung vom Falschen Jungen kam.«
    Dann legte Janice ihren Arm um meine Mam und sagte: »Nehmen Sie ihn einfach mit. Nehmen Sie ihn einfach mit nach Hause. Und denken Sie an das, worüber wir gesprochen haben, Shelagh – dass manchmal Dinge zusammengepappt

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