Der Fliegenfaenger
werden, die nicht zusammengehören.«
Meine Mam nickte. Jetzt waren sie am Ende des Korridors angelangt. Meine Mam sagte: »Es ist alles meine Schuld, nicht wahr? Das geht alles auf mich zurück.«
Aber Janice schüttelte den Kopf und sagte zu meiner Mam: »Das ist keine Frage von Schuld, Shelagh. Sie haben nicht -«
»Nein, hören Sie«, unterbrach meine Mam sie. »Sie haben ganz Recht. Was Sie da vorhin sagten … dass ich immer diese … Angst hatte. Sie haben Recht. Ich habe Angst. Ich hab immer Angst gehabt. Und auf diese Angst ist sicher viel zurückzuführen, oder?«
Janice zuckte nur die Schultern. Und meine Mam sagte: »Also, hiermit lege ich ein Versprechen ab, Frau Doktor. Sie haben mein Wort, dass ich mir ab jetzt alle Mühe geben werde, gegen die Angst anzugehen, denn Sie haben Recht und ich bin Ihnen dankbar und ich sehe jetzt, dass ich oft ganz schön dumm war.«
Meine Mam sagte mir später, es sei ganz komisch gewesen: Als sie Janice hinterherschaute, wie sie durch den Korridor ging, wäre sie ihr am liebsten nachgerannt und für immer bei ihr geblieben. Weil sie sich, sagte meine Mam, bei Janice irgendwie sicher und geborgen fühlte.
Aber meine Mam wusste, dass es dumm war, eine Frau, eine Ärztin aufhalten zu wollen, die sie gar nicht richtig kannte, einfach nur, um dieser Frau weiterhin nahe zu sein.
Also blieb meine Mam stehen und wiederholte das feierliche Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte; das Verspechen, alles zu tun, was Janice ihr gesagt hatte, und ab jetzt gegen die Angst zu kämpfen, sich keine Sorgen mehr zu machen und nicht alle möglichen Dinge so lange aneinander zu pappen, bis sie ihr wie Wackersteine im Magen lagen.
Und als ich mich im Bett umdrehte, dachte ich, es käme wieder eine Krankenschwester. Aber es war meine Mam. Und sie hatte meine Kleider dabei und lächelte mich an, als habe sie mich wieder richtig lieb.
Und sie sagte: »Komm, Junge. Wir gehen heim.«
Und es war wie ein Neuanfang, als wir an jenem Tag das Krankenhaus verließen. Meine Mam sagte, jetzt habe sie alles verstanden und dieser Schulleiter sei ein richtiger Mistkerl, weil er die ganze Schuld auf mich geschoben hätte.
»Und diese Mütter mit ihren dummen Gören«, sagte meine Mam, »die uns wie den letzten Dreck behandelt haben! Und dabei hätte man gar nicht erst über diese Sache reden müssen, hat Dr. Janice gesagt. Und wenn mir so eine junge Ärztin sagt, dass es einfach nur eine Kinderei, ein Jungenstreich war, dann genügt mir das. Die können mir alle den Buckel runterrutschen, diese verdammten Mrs. Weatherbys und Mrs. Bradwicks und Donna Duckworths!«
Und dann hakte sich meine Mam bei mir ein und zog mich an sich. »Die können mir den Buckel runterrutschen«, wiederholte sie. »Das ganze Pack. Und zwischen uns beiden wird jetzt alles wieder gut, nicht wahr?«
Ich sah meine Mam an und nickte, weil ich wusste, dass wirklich alles wieder gut werden würde, denn jetzt verstand sie mich und war wieder meine richtige Mam und schaute mich nicht mehr so an, als ob ich ein falscher Junge wäre.
Ich erinnere mich noch ganz genau, wie die Sonne schräg durch die Bäume fiel, als wir die Krankenhauseinfahrt hinuntergingen, und die hellgelben Lichtkeile, die durch die Lücken in der Baumallee drangen, kamen wie Strahlen direkt aus dem Himmel herab. Ich glaube eigentlich nicht an den Himmel, jedenfalls nicht so, wie er in der Bibel, im Religionsunterricht und im Gottesdienst beschrieben wird. Aber meine Oma sagte immer, so etwas wie den Himmel gebe es ganz bestimmt, und zwar hier auf Erden, obwohl das manchmal schwer vorstellbar sei, wenn man an so fürchterliche Dinge wie das Arndale-Einkaufscenter, organisierte Religion oder Rolf Harris denke.
»Aber wenn du wachsam bist«, sagte meine Oma, »und deine Vorstellungskraft nicht an irgendwelche Nebensächlichkeiten verschwendest und nicht zulässt, dass dich die Fähigkeit, grausam zu sein, die ja in jedem von uns steckt, aushöhlt und erschöpft – wenn du dich dafür offen halten kannst, dann wirst du merken, dass es wirklich so etwas wie den Himmel gibt, Raymond; und wenn du wachsam bist und Glück hast, dann wirst du vielleicht sogar eines Tages belohnt werden und einen winzigen, flüchtigen Blick drauf erhaschen dürfen.«
Und ich habe ihn gesehen; an jenem Tag, als ich mit meiner Mam unter den von einem Glorienschein umgebenen Platanen ging, habe ich so etwas Ähnliches wie den Himmel gesehen. Und ich glaube, meine Mam hat ihn auch
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