Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
und um sich selbst nicht zu verraten, gab er dieses Wissen nicht preis. Vielleicht hatte er auch bemerkt, dass Lukas’ Scheu nach den Ereignissen vom Schulfest vor allem ihm, nicht mir galt und dieser umso mehr auftaute, solange Nathan sich nicht in die Unterhaltung einbrachte, sondern den vollendeten Gastgeber gab, der sich ganz unauffällig darum kümmerte, dass jedem nachgeschenkt wurde.
    »Mama weiß nicht einmal, was genau Sole ist!«, rief Aurora vorlaut – und diesmal war es Mia, die kicherte.
    »Weißt du es etwa?«, gab ich zurück.
    Aurora richtete sich auf und beugte sich leicht nach vorne. Ihr Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, und nach einem Moment Stille verkündete sie: »Sole, das ist das salzhaltige Wasser, das entsteht, wenn man die Salzstöcke im Berg anbohrt und auslaugt.«
    Eben noch hatte ich mich entspannt zurückgelehnt, nun umkrampfte ich unwillkürlich mein Weinglas, und mein Herz begann wieder heftig zu schlagen.
    Dass Aurora dergleichen wusste, war eigentlich nicht erstaunlich: Sie ging in Hallstatt zur Schule, und es war verständlich, dass der Bergbau, der hier das Leben dominierte, im Unterricht immer wieder Thema war. Doch ihre sachliche Stimme, mit der sie diese Worte vortrug, irritierte mich, vor allem aber auch der leicht in sich gekehrte Blick, als würde sie die Worte irgendwo ablesen. Oder vielmehr: Als würde etwas Fremdes, Uraltes aus ihr heraus sprechen. Ihr Erbe.
    Doch schon im nächsten Augenblick hatte ihr Gesicht wieder einen völlig normalen Ausdruck angenommen, und ehe ich ihre Worte kommentieren konnte, fuhr Lukas fort.
    »Ja, genauso ist es. Das Salz im heutigen Bergwerk wird über Bohrlochsonden gewonnen. Eigentlich ist es ein ganz einfaches Verfahren: Es wird eine Bohrung durch das Salzvorkommen getrieben, dann wird durch ein Spülrohr Süßwasser in den Berg geleitet, das den Stein auslaugt – und zuletzt wird das salzhaltige Wasser, die Sole, durch ein anderes Rohr wieder nach oben gepumpt.«
    »Und die Sole wird weiter nach Ebensee geleitet«, schloss ich. Was ich lieber verschwieg, war, dass ich mir die Bergarbeiter bisher nicht mit Sonden und Rohren vorgestellt hatte, sondern wie sie mit Hammer und Meißel das Salz aus dem Stein schlugen.
    Lukas öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen – auch Mia schien bereit, etwas einzuwerfen, doch wieder war es Aurora, die unvermittelt sprach, nicht einfach nur mit einer altklugen, sondern mit dieser
alten
Stimme.
    »So war es früher«, kommentierte sie etwas, was ich nicht laut gesagt, sondern nur gedacht hatte, »in der prähistorischen Zeit gewann man das Salz ausschließlich im Trockenabbau – im Mittelalter und im 19. Jahrhundert war das teilweise auch noch so. In festen Brocken brach man es aus dem Berg und brachte es so in den Handel. Bis zu 330 Meter ging es damals bereits unter Tage. Und neben den Bergmännern gab es die sogenannten Kerntragerweiber, die noch bis zum Jahr 1890 das Steinsalz – oder ›den Kern‹, wie sie es nannten – vom Salzberg ins Tal trugen. Viele Hallstätterinnen verrichteten diese Arbeit zur Aufbesserung des kargen Lohns ihrer Männer. Zweimal am Tag machten sie sich mit ihren ›Kernkraxen‹ auf den Weg. Auch im hochschwangeren Zustand mussten sie ihre schweren Lasten tragen. Im Tal brachten sie das Salzgestein dann ins Sudhaus, in dem aus dem Stein Salz gewonnen wurde.«
    Als sie geendet hatte, herrschte kurz Schweigen. Lukas blickte Aurora sichtlich anerkennend an, Mia etwas neidisch, mir hingegen stockte der Atem. Kurz lag eine unerträgliche Spannung in der Luft. Ich suchte Nathans Blick, und mein Entsetzen wuchs, als ich sah, dass er mir – mit sichtlich besorgtem Gesicht – auswich und starr auf sein Wasserglas sah. Dieses wiederum hielt er mit der rechten Hand regelrecht umklammert – was ich sonst noch nie bei ihm gesehen hatte.
    »Jenes Kernsalz, das die Kerntragerweiber damals schleppten und das direkt aus dem Stein gebrochen wurde, findet heute noch Verwendung – als Lecksalz nämlich für das Wild«, fuhr Aurora fort.
    Diesmal war ihr Blick nicht in sich gekehrt. Fast herausfordernd sah sie Mia an, sichtlich stolz auf ihr Wissen, woraus immer sie es schöpfte. Doch auch wenn diese leise Rivalität mit der Freundin sie kindlicher wirken ließ – das Blau ihrer Augen tat es nicht. Es leuchtete so durchdringend wie manchmal bei Nathan, doch während es bei ihm ein Zeichen höchster Konzentration oder starker Gefühle war, wirkte es bei ihr in diesem

Weitere Kostenlose Bücher