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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Biskuitteig bedecken würde –, zuckte sie jedoch zurück, als hätte ich nichts Geringeres im Sinn, als sie zu vergiften.
    »Ich habe keinen Hunger!«, rief sie – diesmal nicht empört, sondern fast schon hysterisch. Vor Schreck entglitt mir fast die Schüssel. Seit Jahren wappnete ich mich insgeheim für den Tag, an dem sie ihren Appetit verlieren würde – untrügliches Zeichen für das Erwachen ihres Nephilim-Erbes, doch bis jetzt hatte sie immer normale Portionen gegessen.
    Ich warf Nathan einen Blick zu, doch der tat so, als hätte er ihre aufgebrachten Worte nicht gehört.
    »Dann nehme ich an, du willst uns nicht beim Kochen helfen«, stellte er ruhig fest.
    Wortlos wandte sich Aurora ab, um die Küche zu verlassen.
    »Ist irgendetwas passiert?«, rief ich ihr nach. Ich wollte nicht zu besorgt klingen, konnte es aber nicht verhindern.
    »Was soll denn passiert sein?«, gab sie zurück. Immerhin – sie klang nun nicht mehr unwirsch, eher verwundert, und meine Irritation über ihr Verhalten ließ nach. Als sie in den Flur trat, streifte sie ein Luftzug und wirbelte ihre dichten rotbraunen Haare auf. Es war später Nachmittag geworden. Der eben noch tiefblaue Himmel färbte sich nach und nach in ein Rostbraun. Bald würde es zu einem kalten Violett werden, das die Nacht wie in einem einzigen tiefen, gierigen Atemzug verschluckte, doch noch entfaltete die Sonne ihre ganz Kraft, und ihre Strahlen schienen Aurora regelrecht zu liebkosen. Ich sah, wie ihre Haare aufleuchteten, ihr Gesicht in Bronze erstrahlte. Der Anblick war wunderschön. Doch dann – ich weiß nicht mehr, ob es am Licht lag, an dem Luftzug oder weil sie ihre Position leicht verändert hatte – geschah etwas Unheimliches: Wie sie da in der Abendröte stand, warf sie einen Schatten auf die gegenüberliegende Wand – und dieser Schatten schien plötzlich zu wachsen, wurde breiter und höher, schien nicht länger zu ihr zu gehören, sondern zu einem Riesen. Vor allem aber bewegte sich dieser Schatten, obwohl Aurora ganz still stand und lediglich ihre Haare im Lufthauch flatterten. Er schien beide Hände zu heben – oder vielmehr Flügel anstelle von Armen –, nach ihr zu greifen, sie zu streicheln und zu umarmen, sie … zu verschlingen. Das Licht war plötzlich nicht mehr warm und rot, sondern kalt, ihre Gestalt nicht einfach nur still, sondern versteinert, die Distanz zwischen uns nicht nur wenige Schritte, sondern eine riesige Kluft.
    Mein Kind … es gehörte mir nicht mehr … es gehörte diesem Schatten, und ich konnte nichts tun, um es ihm wieder zu entreißen …
    Wieder entglitt mir fast die Schüssel mit der Kokoscreme.
    »Aurora«, stammelte ich.
    Der Luftzug ließ nach. Auroras dichte Haare fielen auf ihren Rücken, und sie ging wortlos in ihr Zimmer. Ich starrte auf die Wand, sah aber keine Spur mehr eines Schattens, der ein Eigenleben entwickelt hatte – nur noch den matten Terrakottafarbton, in dem wir die Wand vor kurzem gestrichen hatten.
    Nathan schien von all dem nichts bemerkt zu haben, sondern hackte ungerührt den Schnittlauch klein. Hatte er den Schatten nicht bemerkt, weil er mit dem Kochen beschäftigt war? Oder weil nur ich, Auroras Mutter, diesen Schatten … dieses Wesen wahrnehmen konnte?
    Plötzlich fröstelte ich, genauso wie ich auf der Tribüne gefröstelt hatte, als das Licht so fahl geworden war, der Wind so kalt – so, als würde sich eine dunkle Wolke nicht einfach nur vor die Abendsonne schieben, sondern sie ganz und gar verschlucken.
    Nathan blickte hoch. »Denkst du immer noch an Caspar?«, fragte er. »Es wird besser werden, wenn das Anwesen erst verkauft ist … wenn Menschen es mit neuem Leben füllen … womöglich sogar eine Familie mit Kindern.«
    »Das mag sein, aber Aurora …« Ich seufzte. »Hast du eben gesehen, wie …«
    Ich brach ab, brachte es nicht über mich, von diesem Schatten zu sprechen, und Nathan bezog meine Worte auf Auroras rüdes Verhalten.
    »Sie war etwas abweisend. Aber das ist ganz normal. Immerhin ist sie zwölf!«
    Ich zuckte zusammen. »Hat dieses Alter eine besondere Bedeutung bei den Nephilim?«
    Nathan lachte auf. »Nein«, beruhigte er mich rasch, »das ist kein besonderes Alter bei den Nephilim … aber bei den Menschen beginnt dann für gewöhnlich die Pubertät.«
    Er lächelte mir zu, und diesmal wirkte es aufrichtiger, dann ließ er mich los und sah im Backofen nach dem Saibling in Salzkruste.
    »Das ist ja viel zu heiß!«, rief er aus. »Bei

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