Der Fluch der Abendröte. Roman
bedrohlicher Schatten gelegen hatte. Wenn man mich noch vor einer Woche gefragt hätte, wie ich mich fühlte, so hätte ich von Herzen beteuert, dass es mir nicht besser gehen könne. Doch nun erschien es mir einfach nur feige und naiv, jemals geglaubt zu haben, dass wir eine normale Familie sein könnten. Nathan war ein Nephil … Caspar lebte noch … und Aurora trug dieses Erbe in sich. Wie ein Film liefen Bilder der vergangenen Jahre vor mir ab, und alles, was mir bislang als ungetrübte Idylle erschienen war, bekam nun den bitteren Beigeschmack der Lüge, des Verdrängens, des Sich-blind-Stellens. Und alles, was mich schon früher belastet hatte – die Distanz zwischen Nathan und Aurora, seine Weigerung, weitere Kinder in die Welt zu setzen –, erschien mir nun unerträglich.
Ich weinte in Lukas’ Armen, bis ich keine Tränen mehr hatte, bis alles aus mir herausgeflossen war, Panik, Furcht, Entsetzen, Ohnmacht – aber auch sämtliche Kraft. Als mein Schluchzen verstummte, fühlte ich mich unendlich ausgelaugt und begann wieder zu zittern.
»Du darfst nicht die Nerven verlieren, Sophie«, beschwor mich Lukas. »Hörst du?«
Ich nickte schwach. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich nie wieder weinen, nie wieder schreien, müsste ewig so sitzen bleiben und stumpf vor mich hin starren.
»Ich mache dir etwas zu essen«, entschied er.
»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte ich schwach.
»Keine Widerrede! Du musst zu Kräften kommen! Und ich lasse dir ein Bad ein! Du bist immer noch völlig durchgefroren.«
Als er mich losließ, hätte ich mich am liebsten an ihm festgeklammert, doch ich unterdrückte diese Regung.
»Danke«, murmelte ich. Als ich ihm nachsah, schämte ich mich, dass ich mich so gehen ließ. Er war doch genauso verzweifelt wie ich! Und außerdem war er zusammengeschlagen worden!
Ich sah, wie er sich an den Kopf griff, wo sicherlich schlimme Schmerzen tobten. Doch diese hielten ihn nicht von seinem Vorhaben ab: Wenig später hörte ich, wie Wasser in die Badewanne floss und wie er sich in der Küche zu schaffen machte.
Als ich aus dem Bad kam, war mir nicht mehr kalt. Ich hatte ein dickes Handtuch um meinen Körper geschlungen und auch einen Bademantel und dicke Socken angezogen. Hunger fühlte ich keinen, aber der Duft, der durch das Haus zog, war verführerisch. Ich hatte keine Ahnung, wie Lukas es geschafft hatte, aber es war ihm gelungen, aus spärlichen Resten etwas Leckeres zu kochen. Bei dem köstlichen Geruch musste ich daran denken, wie Nathan das letzte Mal gekocht hatte – erst vor wenigen Tagen, als Lukas und Mia zum Abendessen gekommen waren. Vorhin hatte ich noch geglaubt, nie wieder weinen zu können, nun stiegen mir wieder Tränen in die Augen. Mit aller Macht schluckte ich sie herunter – und befahl mir, etwas zu essen, wenn auch nur Lukas zuliebe.
Zuerst tischte er eine Kartoffelsuppe auf, die er mit Curry verfeinert hatte (von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn überhaupt im Haus hatte). Außerdem hatte er Brot getoastet und mit Schinken, Champignons und Mozzarella überbacken.
Jeder Bissen, den ich zu mir nahm, war eine Überwindung und fühlte sich wie ein Verrat an, weil ich dennoch mit gutem Appetit aß, obwohl ich nicht wusste, wie es Aurora ging und ob sie vielleicht hungerte. Aber am Ende siegte der Hunger – und Lukas, der sich einfach nicht damit zufriedengab, dass ich den Teller gleich wieder wegschieben wollte, und darauf bestand, dass ich weiteraß.
Nachdem wir zu Ende gegessen hatten, machte er wieder Kaffee. Mittlerweile schien er sich gut in meiner Küche zurechtzufinden, denn er öffnete auf Anhieb die richtigen Schubladen.
Es war etwas ungewohnt, ihn so zu sehen. Auch wenn ich wusste, dass er den Alltag mit Mia allein bewältigte, hatte ich ihn bisher eher als wortkargen Bergarbeiter und nicht als fürsorglichen Hausmann gesehen.
»Woher kannst du so gut kochen?«, fragte ich.
Er sah mich nicht an, während er die Kaffeebohnen in die Maschine füllte. »Ich musste es lernen … damals …« Er brach mitten im Satz ab, hob kurz lauschend den Kopf, als hätte er ein Geräusch gehört, ließ ihn aber bald wieder enttäuscht sinken. »Warum … warum meldet sich nur niemand?«
Ich wusste nichts zu sagen, weil ich weder lügen noch ihm die Hoffnung nehmen wollte, dass sich über kurz oder lang der Entführer melden und uns sagen würde, was wir zu tun hätten, um die Mädchen wiederzubekommen.
Nachdem er den Kaffee zubereitet hatte,
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