Der Fluch der Abendröte. Roman
irgendwie ich selbst, da ich die Augen vor dieser anderen, beängstigenden Wirklichkeit, die hinter meiner kleinen, heilen Welt lauerte, verschlossen hatte.
»Lukas …«, murmelte ich hilflos.
»Ja«, bekräftigte er, »ich dachte wirklich, ich könnte wieder lieben. Nicht zuletzt wegen … dir. Ja, es hat mir so gut getan, mit dir … mit euch zusammenzusein! In den letzten Jahren haben Mia und ich so abgeschottet gelebt, auch sie tat sich schwer, sich anderen Kindern zu öffnen. Aber dann hat sie sich mit Aurora angefreundet. Und alles wurde so selbstverständlich … mit dir zu reden, bei dir … bei euch zu Abend zu essen. Das war einfach wieder ein Stück Normalität. Und dann … ich wusste natürlich, dass du Nathan hast … aber ich muss gestehen: Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn du mit Aurora allein wärst … so wie ich mit Mia, und …«
»Lukas …«
Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, ich rede wirres Zeug. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Sonst … sonst bin ich nicht so.«
Er beugte sich vor und stützte seinen Kopf schwer auf seine Arme.
»Das ist die Anspannung«, murmelte ich. »Vielleicht solltest du ein bisschen schlafen …«
Er fuhr ruckartig hoch, wich nicht länger meinem Blick aus, sondern starrte mich aus immer noch feuchtglänzenden Augen an. »Dennoch«, setzte er an, »auch wenn ich nicht recht weiß, was ich da rede … eins meine ich doch ganz ehrlich: Du bist eine bemerkenswerte Frau, Sophie. Du bist so stark, du ruhst in dir …«
Seine Worte hörten sich völlig absurd an. Nie hatte ich mich weniger stark und in mir ruhend gefühlt.
»Das stimmt nicht!«, stritt ich ab.
»Doch«, bekräftigte er. »Doch, so ist es! Du erinnerst mich auch ein wenig an Mathilda. Auf den ersten Blick war sie sehr sanft und sensibel, aber zugleich stand sie doch mit beiden Beinen im Leben. Kein Sturmwind konnte sie umfegen.«
»Wie … wie ist sie gestorben?«
Der Kummer verzerrte sein Gesicht. »Ein Unfall …«, presste er knapp hervor. Ich fühlte, wie die Erinnerungen ihn peinigten, und meine unbedachte Frage tat mir leid. Ich wollte ihm nicht noch mehr Schmerzen zufügen. Hastig ergriff ich seine Hand und drückte sie.
»Ich wollte nicht daran rühren, ich …«
»Ach, Sophie …«
Er erwiderte den Druck meiner Hand und beugte sich zu mir. Sein Gesicht war nun ganz dicht vor meinem. Ich konnte sehen, wie gefurcht seine Haut war – Spuren seiner harten Arbeit, aber vor allem seiner Trauer.
Nathan hatte keine einzige solche Furche. Seine Seele war gewiss auch von viel Leid gezeichnet, aber sein Gesicht war schön und glatt und weich und würde es immer bleiben. Die Spuren der Zeit würden an ihm nicht nagen so wie bei mir. Er würde ewig jung bleiben, ewig schön, während ich irgendwann eine alte Frau wäre, die zu einem alten Mann viel besser passen würde … einem Menschen, wie ich selbst einer war.
Vor diesem Gedanken war ich in den letzten Jahren immer davongelaufen, aber jetzt stieg er mit aller Macht in mir auf. Wenn Nathan und ich uns damals vor fünf Jahren getrennt hätten, ging es mir durch den Kopf, dann wäre ich heute tatsächlich in der gleichen Situation wie Lukas. Ich wäre immer noch voller Trauer um die Liebe meines Lebens, aber es wäre genügend Zeit vergangen, um langsam wieder nach vorne zu blicken. Wenn ich Lukas nun kennengelernt hätte – vielleicht wäre ich wie er bereit für eine neue Beziehung gewesen. Vielleicht würden wir dann nicht als Freunde hier sitzen, sondern als Liebende … und vielleicht wären Aurora und Mia nicht entführt worden.
Plötzlich hatte ich ein Bild vor Augen – von uns vieren in dieser Villa. Ich wollt es verdrängen, aber es gelang mir nicht. Es schien förmlich von mir Besitz zu ergreifen. So wenig wie gegen diese Vorstellung konnte ich mich dagegen wehren, dass Lukas plötzlich meine Hand losließ und über mein Gesicht strich. Ich fühlte die raue Haut auf seinen Fingerkuppen – viel rauer als Nathans. Etwas ungelenk hob er die zweite Hand, legte auch diese auf meine Stirn, zog schließlich mein Gesicht zu seinem. Nur mehr eine Handbreit waren unsere Lippen voneinander entfernt.
»Lukas …«, presste ich heiser hervor.
»Ich bin so alleine«, murmelte er, »trotz Mia fühle ich mich oft so einsam. Aber ich will nicht alleine sein. Ich ertrage es nicht! Gerade jetzt nicht!«
»Lukas …«
Die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Er zog mein Gesicht noch näher
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