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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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nahm er mir gegenüber Platz. Die Wunde schien gut zu verheilen, denn es drang kein Blut unter dem Pflaster hervor, doch seine Haut wirkte fast grau.
    »Mia … Mia ist doch das Einzige, was mir geblieben ist …«, stieß er plötzlich aus. »Für sie habe ich damals vor fünf Jahren weitergelebt, nur für sie. Wenn es sie nicht gegeben hätte, ich hätte keinen einzigen weiteren Tag überstanden. Aber ich musste für sie sorgen, und so ist Stunde um Stunde vergangen, und irgendwann war der Schmerz nicht mehr ganz so unerträglich.«
    Nun schien ihn dieser Schmerz förmlich zu überwältigen. Tiefe Trauer vereinte sich mit der Sorge um seine Tochter.
    »Bis zu ihrem Tod hat Mathilda alles gemacht«, fuhr er mit gesenktem Blick fort. »Wir haben ganz traditionell gelebt – ich ging arbeiten, sie hat den Haushalt übernommen. Als es sie nicht mehr … gab, musste ich plötzlich alles lernen. Es ist mir nicht leichtgefallen, das kannst du mir glauben.«
    Die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht, und zugleich sah ich, wie Tränen in seinen Augen glitzerten. »Ich hatte so große Angst, alles falsch zu machen … Es schien mir unmöglich, Mathilda zu ersetzen. Eigentlich kann ich das bis heute nicht.«
    Bis jetzt hatte er erst ein- oder zweimal den Namen seiner Frau ausgesprochen, und auch jetzt tat er es mit einem nahezu ehrfürchtigen Unterton, als wäre er zu kostbar, um ihn leichtfertig in den Mund zu nehmen.
    Ich erhob mich mit der Kaffeetasse in der Hand, aus der es dampfte. »Komm!«, forderte ich ihn auf. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen.«
    Das schmutzige Geschirr ließen wir einfach stehen. Schweigend saßen wir auf dem Sofa, jeder in den Anblick der eigenen Kaffeetasse versunken – und in seinen Gedanken. Erst nach einer Weile blickte ich wieder auf.
    »Es ist fünf Jahre her, dass deine Frau …«, ich brachte den Satz nicht zu Ende.
    »Ja«, sagte er knapp. »Eigentlich eine lange Zeit. Und doch nicht lang genug, um damit fertig zu werden. Manchmal sage ich mir, ich habe mich ganz gut geschlagen. Aber manchmal denke ich, dass ich Mia so vieles nicht geben kann, was sie braucht.«
    »Sag so etwas nicht!«, widersprach ich heftig. »Mia ist ein tolles Mädchen! So stark und selbstbewusst! Aurora ist durch die Freundschaft zu ihr richtig aufgeblüht. Ich bin sicher, Mia …«
    Ich brach ab.
    Ich bin sicher, sie wird auch die Entführung gut überstehen, hatte ich sagen wollen. Aber das wäre eine Lüge gewesen, denn ich war mir alles andere als sicher. Ein beängstigender Gedanke kam mir: Falls die Entführer nur an Aurora interessiert waren – was würden sie mit ihr, einem lästigen Menschenkind, machen? Dass sie so geschickt und stark war, war kein Trost – im Gegenteil. Schlangensöhne würden sie nicht einfach gehen lassen, würden sich diese Fähigkeiten vielmehr einverleiben …
    Ich fühlte, wie ich blass wurde, und stellte rasch die Kaffeetasse ab, weil meine Hände zitterten.
    »Was hast du?«, fragte Lukas besorgt.
    Ich wich seinem Blick aus. »Nichts«, sagte ich hastig, »es ist einfach nur dieses Warten …«
    Auch er stellte nun die Tasse ab und rang seine Hände. »Es macht mich verrückt!«, brach es aus ihm heraus. »Erst vor kurzem dachte ich noch, es würde nun endlich bergauf gehen. Hier in Hallstatt haben wir uns doch so wohl gefühlt. Es gibt hier keine schmerzhaften Erinnerungen. Wir konnten nach vorne blicken – vor allem ich, Mia ist das ja schon immer leichter gefallen. Ich dachte sogar … ich dachte …«
    »Was dachtest du?«
    Nun war er es, der meinem Blick auswich. »Ich dachte sogar, dass ich vielleicht irgendwann wieder eine Frau finden könnte. Bis vor kurzem war das noch unvorstellbar. Niemand konnte … niemand kann Mathilda ersetzen. Und doch – das Leben geht weiter. Ich weiß, dass ich bis zu meinem letzten Atemzug um sie trauern werde, aber ich weiß jetzt auch, dass es nicht unmöglich ist, wieder zu … lieben.«
    In seinen Augen glänzten erneut Tränen, und das rührte mich noch mehr als seine Worte. Lukas war ein Mann, der sich sicher nicht oft gestattete zu weinen. Wahrscheinlich hatte er es sich selbst kurz nach Mathildas Tod oft genug verboten. Auch jetzt rieb er sich verlegen seine Augen, seine Schultern zitterten leicht. Ich war bestürzt … voller Mitleid … und auch beschämt, weil ich ihm so viel verschwieg. Und weil ich mir sicher war, dass Nephilim die Verantwortung für die Entführung trugen – und folglich auch

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