Der Fluch der Abendröte. Roman
an das seine, und dann lagen unsere Lippen aufeinander. Es war kein echter Kuss, denn wir bewegten uns nicht, öffneten die Lippen nicht. Und dennoch konnte ich fühlen, wie rau seine Haut war und wie warm. Er streichelte vorsichtig über mein Haar, über meinen Nacken. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Und plötzlich ging mir auf, dass ich noch nie einen Mann, einen Menschen geküsst hatte – nur Nephilim. Nathan war der Erste gewesen – und einmal hatte ich Caspar geküsst, aber sonst niemanden.
Wie würde Lukas schmecken? Was würde passieren, wenn ich meine Lippen öffnete, mit seiner Zunge verschmolz?
Ich sehnte mich danach – sehnte mich weniger nach dem Kuss eines Mannes, eines echten Mannes, als danach zu vergessen. Mich blind und taub zu stellen. Mich in die Umarmung fallenzulassen, mich der Wärme hinzugeben, die Lukas in mir entfachte, nachdem eben noch Kälte … Caspars Kälte sich in mir breitgemacht hatte.
Aber dann riss ich mich entschieden los.
Betroffen senkte Lukas sein Gesicht. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, erklärte er heftig. »Es tut mir leid.«
»Nein!«, rief ich. »Mach dir keine Vorwürfe. Es ist nur …«
»Nathan?«, fragte er schlicht.
Plötzlich konnte ich ihn ganz deutlich vor mir sehen – nicht Nathan mit seinen blauen melancholischen Augen, seinen feinen Zügen, seiner sehnigen Gestalt, sondern Caspar, und sein Blick war nicht leer und gleichgültig wie vorhin auf der Dachsteinlodge, sondern glänzte voller Spott und Hass. Der alte Caspar, ging mir auf, hätte Lukas auf der Stelle getötet, wenn er diesen Kuss … diesen Ansatz eines Kusses gesehen hätte. Es war ihm schwer genug gefallen, Nathan als Nebenbuhler zu ertragen – aber niemals hätte er zugelassen, dass mir ein Mensch zu nahe käme. Zum ersten Mal dachte ich daran, wie gefährlich es für jeden Mann gewesen wäre, wenn er sich in den ersten sieben Jahren von Auroras Leben, als Nathan uns verlassen hatte, Caspar uns hingegen heimlich beobachtete, mir genähert hätte. Auch damals, als ich noch nichts von den Nephilim wusste, hatte ich kein normales Leben führen können. Wie lächerlich, je geglaubt zu haben, dass es später möglich sein würde!
»Sophie, ich wollte wirklich nicht …«
»Sag einfach nichts mehr«, unterbrach ich ihn schnell.
Schweigend saßen wir nun nebeneinander. Auch wenn ich mich von ihm gelöst und den Kuss beendet hatte – als Lukas wieder meine Hand ergriff, brachte ich es nicht übers Herz, ihn zurückzuweisen. Es wurde Abend, es wurde Nacht, immer noch saßen wir auf dem Sofa. Sachte streichelte Lukas über meine Hand. Irgendwann wurden seine Bewegungen langsamer, er nickte ein. Selbst dann ließ ich ihn nicht los und war mir nicht sicher, ob ich es tat, um ihn zu trösten – oder mich selbst.
»Hilf mir, Cara! Hilf mir! Was soll ich tun?«
Aurora konnte ihre absonderlichen Schritte und Sprünge nicht verlangsamen. Sie konnte auch nicht verhindern, dass neben ihrem verzweifelten Hilferuf weiterhin so viele andere Worte über ihre Lippen kamen, förmlich hervorquollen, als wäre ihr Gehirn viel zu klein, um sie alle bei sich zu behalten. Und da waren nicht nur die eigenen Worte, sie hörte auch Mia – hörte ihre nackte, pure Angst … hörte ihre verzweifelten Gedanken … entführt … hilflos … mit einer Freundin zusammen, die sich wie eine Wahnsinnige aufführte …
Aber dann, inmitten dieses Wirrwarrs, vernahm sie etwas anderes. Vernahm Cara, die sich einst zu ihr gebeugt hatte, ihr fest in die Augen geblickt und ihr eindringlich gesagt hatte: »Du hast bei deiner Geburt große Macht geschenkt bekommen, Aurora, eine ganz besondere und auch seltene Macht. Du verfügst über immens viel Wissen und du kannst viele Sprachen sprechen. Du kannst die Gedanken anderer lesen, und du kannst diese Gedanken auch lenken. Eines Tages wirst du vielleicht sogar Gegenstände allein kraft deines Geistes bewegen können. Aber das wird dir nicht gelingen, wenn diese Macht über dich Oberhand gewinnt, hörst du? Du darfst dich ihr nicht einfach überlassen, du musst sie befehligen. Nur dann ist sie eine Gabe und kein Fluch.«
Damals war ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Als sie sich Cara anvertraut und ihr erzählt hatte, was in ihr vorging, war diese nicht befremdet gewesen – im Gegenteil. Ein wissender Ausdruck war in ihrem Gesicht zu sehen gewesen. Cara hatte erkannt, was in ihr wütete – sie hatte keine Angst davor gehabt, und sie hatte ihr erklären
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