Der Fluch der Abendröte. Roman
Hallstatt aufgetaucht wären.«
»Gewiss. Aber wenn sie es gewollt hätten, dann hätten sie alles von euch erfahren können, ohne jemals einen Fuß in die Nähe eurer Villa zu setzen.«
»Warum?«, frage ich aufgeregt – und insgeheim erleichtert, dass er mittlerweile so selbstverständlich mit mir sprach, das Gespräch nicht mehr so holperte wie am Anfang, obwohl ich das Gefühl hatte, dass durch jede Information alles noch verworrener anstatt klarer wurde. »Ist jene Fähigkeit, wie sie Cara auch im verstärkten Maß hat – nämlich die Gegenwart anderer Nephilim zu wittern, bei ihnen besonders ausgeprägt?«
Nachdem er vorhin so abrupt stehen geblieben war, begann er nun wieder zu gehen, allerdings nicht geradeaus, sondern im Kreis. Seine Füße hinterließen im feuchten Boden eine schmale Spur. »Natürlich haben die Alten besondere Fähigkeiten – weil sie schließlich auch mehr Zeit hatten, sich diese anzueignen. Allerdings bin ich auch einigen begegnet, deren Talente nicht sonderlich ausgeprägter waren als die von anderen Nephilim. Ihre Macht und ihr Einfluss haben weniger mit ihrem speziellen Können zu tun als mit ihren vielen Dienern. Und dass sie über diese verfügen, liegt wiederum in der strikten Hierarchie der Nephilim begründet.«
»In der Hierarchie, die du vorhin schon erwähnt hast?«
Während er sprach, hob er die Hände, spreizte sie und presste dann die Fingerspitzen so aufeinander, dass die Hände ein Dreieck formten. Er hob sie über seinen Kopf, so dass der dunkle Stoff seines Mantels einen Teil seines Gesichts verbarg. Der Wind rauschte durch die Blätter, Äste knackten. Kurz wirkte seine Pose aggressiv, gefährlich, und ich wich zurück, bis ich gegen einen Baumstamm stieß. Prompt ließ er die Hände sinken, blickte mich halb verächtlich, halb spöttisch an. Erst nach einer Weile wiederholte er die Geste und ergänzte sie diesmal mit erklärenden Worten. »Die meisten Hierarchien funktionieren doch auf diese Weise: Ganz oben an der Spitze gibt es nur wenige Mächtige. Nach unten hin wird die Pyramide immer breiter. Das Fußvolk ist in Massen vorhanden …«
Ich glaubte zu verstehen. »Das heißt, an der Spitze der Nephilim stehen die Alten, die die Macht für sich beanspruchen – und weiter unten Nephilim wie du und Nathan, die sich ihrem Willen unterwerfen müssen.«
Er seufzte wie ein strenger Lehrer, dem es manchmal an Nachsicht fehlt. »Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«
»Ahnung wovon?«
Er seufzte wieder. »Nathan und ich stehen tatsächlich rangmäßig unter den Alten. Aber alles ist ungleich komplizierter.«
»Dann erklär es mir!«
»Wie schon gesagt – du hättest längst mehr herausfinden können, wenn du es gewollt hättest. Du hättest dich mit den Schriften über jene Wesen beschäftigen können, von denen wir anscheinend abstammen.«
»Den Engeln«, sagte ich, »derer es gute und böse gibt. So wie bei euch.«
»Es gibt noch viel mehr Engel als gute und böse.«
»Nämlich?«
»Wusstest du, dass es in der Theologie eine eigene Disziplin gibt, die sich mit den Engeln beschäftigt? Nicht mit den putzigen Gestalten in den barocken Kirchen oder den lieblichen Schutzengeln der Romantik. Sondern mit den Heerscharen Gottes. Angelologie heißt diese Disziplin … die Lehre von den Engeln. Diverse Kirchenväter, die Theologen der ersten Jahrhunderte, haben sich mit den Engeln beschäftigt. Vieles, was sie schrieben, ist blanker Unsinn – Konstrukte armseliger Geister, die so vieles nicht fassen konnten. Aber manches ist dabei, was die Sache so akkurat trifft, dass man meinen könnte, ein paar Nephilim hätten auf den Schultern dieser Theologen gesessen und hätten ihnen die Wahrheit eingeflüstert.«
Langsam trat er näher. Ich stand immer noch gegen den Baumstamm gelehnt und presste unwillkürlich meinen Kopf dagegen. Sein schwarzer Mantel blähte sich erneut und nahm mir die Sicht auf die anderen Bäume.
»Welche Wahrheit?«, fragte ich.
»Dionysios Aeropagita. Sagt dir der Name etwas?«
Ich schüttelte den Kopf, woraufhin ihm ein Laut entfuhr, der viel schriller war als alles, was er bisher gesagt hatte.
»Ein Jammer, dass selbst die Auserwählten oft so dumm und ungebildet sind wie das restliche Pack! Ich habe ganz vergessen, wie wenig die Menschen wissen. So viel weniger als wir. Und dennoch halten die Narren von Wächtern sie für wert, vor uns beschützt zu werden!« Seine Stimme wurde immer durchdringender, ehe er verstummte, fast
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