Der Fluch der Abendröte. Roman
du?«
Ich war mir nicht sicher, wie viel Ernst in seinen Worten steckte oder ob er mich einfach nur erschrecken wollte – aber ich wusste, dass er auf mein Spiel eingestiegen war. Dass er mich auf eine merkwürdige Weise
brauchte
, so wie auch ich auf ihn angewiesen war. Und dass es keinen Unterschied machte, ob wir beide es nur zähneknirschend ertrugen.
»Nun, es muss ja nicht unbedingt ein Wanderer oder Jogger sein«, sinnierte er laut. »Dich könnte ich zum Beispiel auch töten. Eigentlich wollte ich immer schon gern gut Klavier spielen können.« Wieder zwinkerte er mir zu und machte herausfordernd einen Schritt in meine Richtung. Ich reckte mein Kinn noch höher. Eine Falte grub sich in seine schlaffe Stirn ein, von der ich nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte – Erschöpfung, Spott oder Gier.
»Sag es mir, Caspar!«, presste ich hervor. »Sag mir alles, was du weißt.«
Die Falte verschwand von seiner Stirne. Zunächst schwieg er, als er sich abwandte und wieder weiterging, doch dann begann er auf eine meiner Fragen, die ich vorhin gestellt hatte, zu antworten. Das feuchte Laub raschelte unter seinen Schuhen. »Du weißt, warum man sie die Alten nennt, nicht wahr? Weil sie im wahrsten Sinne des Wortes die Ältesten unter uns sind. Die erste Generation der Nephilim sozusagen. Die Kinder der Gottessöhne und der Menschentöchter, von denen die Bibel erzählt – und von denen auch im Buch Henoch die Rede ist. Vieles davon ist nur ein Mythos, unzulänglich oder verkürzt wiedergegeben. Doch die Namen der gefallenen Engel, die im Buch Henoch genannt werden, sind teilweise dieselben Namen wie die der Alten.«
Er geriet ins Stocken. Auch wenn er nichts über Auroras Schicksal andeutete, wollte ich die Chance nicht ungenutzt lassen, zumindest etwas zu erfahren. »Und diese Namen«, sagte ich atemlos, »diese Namen hast du vorhin aufgezählt, nicht wahr?«
Er zuckte mit den Schultern und ich befürchtete, dass seine Mitteilungsbereitschaft schon wieder abgeklungen wäre. Doch dann begann er erneut zu murmeln: »Akibeel, Ramuel, Ezeqeel, Sartael, Asael, Anani …« Er machte eine kurze Pause. »Ja, das sind einige Namen von Engeln, die sich mit Menschen einließen – und auch die Namen ihrer Söhne, der Nephilim. Sie tragen diese Namen mit ungeheurem Stolz, auch wenn sie nicht viel von diesen Vätern wissen, im Grunde nicht mehr als wir, die Nachkommen. Keiner kennt die Geschichte, die wahre Geschichte unseres Ursprungs, die sich hinter den alten Mythen verbirgt. In jedem Fall halten sich die Alten für etwas Besseres – und in der Tat sind sie ja auch mächtiger und einflussreicher als die gewöhnlichen Nephilim.«
Während er wieder zu reden begonnen hatte, war er weitergegangen, nun blieb er so abrupt stehen, dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre.
»Wenn sie also diese Macht und diesen Einfluss haben«, versuchte ich, »und wenn sie durchsetzen wollen, dass Aurora zur Nephila erzogen wird; wenn sie also, die Alten, mit ihrer Entführung zu tun haben – warum haben sie dann auch Mia mitgenommen? Sie hätten sie doch einfach bei Lukas lassen können. Sie werden doch kein Interesse an einem gewöhnlichen Menschenkind haben!«
»Hm«, machte er, »das ist in der Tat merkwürdig.«
»Und wenn Nathan gewusst hat, dass sie es auf Aurora abgesehen haben – warum hat er sie nicht in Sicherheit gebracht, anstatt selbst zu gehen und nur diesen Brief zu hinterlassen? Den er nicht hätte schreiben können, wenn sie ihn gewaltsam fortgeschafft hätten.«
»Was steht in diesem Brief?«
Ich zögerte kurz. Auch wenn ich froh war, diese Neugierde in ihm entfacht zu haben – eine Neugierde, die mir nützlich sein könnte, die rätselhaften Vorgänge zu entschlüsseln –, stellte es doch eine Überwindung dar, dem alten Erzfeind etwas anzuvertrauen, was nur Nathan und mich betraf. Allerdings war der Brief, wenn man die wenigen Zeilen überhaupt so nennen konnte, völlig unpersönlich und nüchtern gehalten. Ich gab unsere Liebe folglich nicht preis, wenn ich von Nathans Aufforderung, Hallstatt sofort zu verlassen, erzählte.
Caspar runzelte die Stirn, während ich den Inhalt des Schreibens wiedergab. »Es ist ziemlich merkwürdig, dass er dich von hier fortschickt. Wenn die Alten es tatsächlich auf Aurora abgesehen haben, dann kannst du ihnen an keinem Ort der Welt entkommen.«
»Nathan meinte, dass sie nicht alleine leben – sondern in Gruppen. Und dass es uns hätte auffallen müssen, wenn sie hier in
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