Der Fluch der Abendröte. Roman
dass ein Laut nach draußen drang. Doch als Mia auf ihr Zeichen hin noch lauter schrie, vernahm sie plötzlich Schritte.
»Er … er kommt«, murmelte Aurora.
Vor Schreck hörte Mia zu schreien auf, doch da wurde die Tür bereits geöffnet. Auroras Körper spannte sich an. Während Mia deutlich sichtbar in der Ecke lag, hatte sie sich selber hinter der Tür versteckt. Ihre Anspannung wurde unerträglich, das Kribbeln überzog wieder ihren gesamten Körper.
Konzentrier dich auf das Ziel … konzentrier dich auf das Ziel … konzentrier dich …
Jetzt trat der Mann … das Wesen in den Raum, blickte sich um. Mia klagte etwas von Schmerzen, krümmte sich noch mehr. Die Tür quietschte, als sie hinter dem Nephil zufiel. Wo sind wir nur?, überlegte Aurora kurz … und diese Frage bedingte, dass ihre Konzentration nachließ. Obwohl sie noch stillstehen wollte, machte ihr Körper unwillkürlich einen Satz nach vorne. Sie hielt den Atem an, wich hastig wieder zurück und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass der Nephil sie nicht gehört zu haben schien, sondern weiterhin auf Mia starrte.
Aurora betrachtete seinen Rücken und war froh, dass sie dem Blick der schwarzen Augen nicht ausgeliefert war, unter dem Mia sichtlich erstarrt war. Sie fühlte sich siegesgewiss.
Es ist kein mächtiger Nephil, ging es ihr durch den Kopf, er gehört nur zum Fußvolk, ist nichts weiter als ein Diener …
Dann verstummten all ihre Gedanken. Sie versuchte sich leer zu machen, nur an eines zu denken, an das Schwert, das der Nephil unter seinem schwarzen Mantel trug. Vorhin hatte sie es nicht gesehen, und auch jetzt war es unter dem Stoff verborgen, und dennoch war sie sich sicher: Es war da. Ein Nephil, der sie entführte, war nicht unbewaffnet.
Eben trat er dichter auf Mia zu. Aurora zählte innerlich bis drei, dann stürzte sie – diesmal willentlich – erneut hinter der Tür hervor. Ihr Ziel war es, knapp neben ihm stehen zu bleiben und noch im Sprung nach dem Schwert zu fassen. Doch sie hatte ihre Kräfte falsch eingeschätzt, sie prallte mit voller Wucht gegen ihn, so dass er umfiel – und ihre Hand ins Leere griff.
Entgeistert sah er sie an, kurz zu erstarrt, um sich aufzurappeln. Sie nutzte den Moment der Verwirrung, um sich wieder auf ihn zu stürzen, und diesmal bekam sie das Schwert zu fassen. Der Griff war aus kaltem Metall, und dennoch fühlte sich die Waffe an, als wäre sie lebendig. Es schien, als würde nicht nur sie das Schwert festhalten, sondern sich dieses an sie klammern, sie glauben lassen, dass sie stark genug wäre, es zu erheben, den Nephil zu töten …
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie vergaß, was sie wollte, und sie vergaß, sich zu konzentrieren.
Nein!, dachte sie nur. Nein! Ich kann es nicht! Ich kann ihn nicht töten!
Der Augenblick des Zögerns dauerte zu lange. Sie starrte immer noch verwirrt auf das Schwert in ihrer Hand, als die Wucht des Schlägers sie zurücktaumeln ließ. Der Nephil hatte sich aufgerappelt und so heftig nach ihr getreten, dass sie vor Schreck das Schwert losließ. Klirrend fiel es auf den Boden. Prompt griff er danach und ließ das kalte, scharfe Metall über ihrem Kopf kreisen. Die Klinge traf sie nicht – doch sein Lachen schien in ihre Haut zu schneiden, schmerzhaft, unerträglich.
»Du denkst, du kannst es mit mir aufnehmen?«
Aurora duckte sich. Die Mischung aus Erstaunen, Enttäuschung, Ärger und Hilflosigkeit überwältigte sie. Und da war wieder das Zittern, das sie überkam, nein, kein Zittern, sondern ein Krampf, ein schrecklicher Krampf.
Nein!, dachte sie verzweifelt, nicht schon wieder!
Mia schrie, als der Nephil das Schwert erneut kreisen ließ. Hilflos den Zuckungen ihres Körpers ausgeliefert, musste Aurora zusehen, wie er schließlich nicht länger über ihrem Kopf mit dem Schwert fuchtelte, sondern die Klinge langsam auf Mia senkte.
Aurora konnte förmlich hören, was er dachte: Sie selbst war eine Nephila – und hatte darum Wert für ihn. Doch Mia war nur ein lästiges, unbrauchbares Menschenkind. Als Strafe für Auroras Angriff würde er sie töten.
Caspar hatte mich jetzt endgültig stehen lassen und war davongestapft. Er blieb nicht auf der Straße, sondern bog in den Wald ab und war binnen weniger Augenblicke zwischen den Bäumen verschwunden. Das Letzte, was ich sah, war, dass nasse Blätter seinen schwarzen Mantel streiften, doch er achtete nicht darauf – genauso wenig wie darauf, ob ich ihm folgte oder nicht. Tatsächlich
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