Der Fluch der Abendröte. Roman
verwundert dreinblickte – so als hätte er nicht damit gerechnet, jemals wieder zu solch einem Ausbruch fähig zu sein. Er atmete ein paar Mal tief durch, ehe er ausdruckslos fortfuhr: »De Coelesti Hierarchia. So heißt eine Schrift dieses Dionysios. Sie ist noch vor der ersten Jahrtausendwende entstanden.«
»Von der himmlischen Hierarchie«, übersetzte ich.
Anerkennend hob er die Braue. »So ist es. Es geht um die Hierarchie der Engel – um die Pyramide also, die ich vorhin andeutete. Denn laut Dionysios gibt es verschiedene Arten von Engeln – und jede Art nimmt einen unterschiedlichen Rang ein.«
Plötzlich hob er die Hände und ließ sie auf mich herabsausen. Mit einem Aufschrei drehte ich meinen Kopf zur Seite, duckte mich – und begriff erst dann, dass er mich nicht hatte packen wollen, sondern lediglich mit seinen Fingernägeln drei horizontale Striche nebeneinander in die Rinde ritzte. Die Rinde war hart, doch seine Nägel offenbar härter, denn die Striche waren ziemlich tief geworden.
»Es … es gibt drei Arten von Engeln?«, versuchte ich die drei Striche zu deuten.
Er verdrehte die Augen. »Nein, es gibt viel mehr, aber es gibt insgesamt drei Sphären. Ja, genauso nennt Dionysios das. Sphären. Man könnte das in etwa mit ›Machtebenen‹ übersetzen.«
»Drei Sphären …«, echote ich schwach.
»Die oberste Sphäre, so schreibt zumindest Dionysios, steht Gott am nächsten. Sie ist jene Sphäre, die über die irdische Welt vollkommen erhaben ist. Nur die mächtigsten aller Engel gehören dieser obersten Sphäre an, die Cherubim, Seraphim und die Thronoi. Nach dem Weltbild von Dionysios leben sie im Himmel und lassen sich nie zu den Menschen herab. All das Irdische interessiert sie nicht …«
»Und diese Art von Nephilim gibt es auch?«, fragte ich aufgeregt.
»Sagen wir es so – die Bezeichnungen, die Dionysios wählt, haben zwar nichts mit unseren zu tun. Doch was er über die drei Sphären und ihre Charakteristika sagt, trifft auch für die Welt der Nephilim zu, insbesondere was die Cherubim anbelangt. Laut Dionysios sind sie es, die über die letzte Weisheit und die Erkenntnis aller Dinge verfügen. Das sagt ja auch ihr Name: Cherubim kann man übersetzen mit ›Fülle der Weisheit‹, ›Träger der Erkenntnis‹. Und die Nephilim, die mit ihnen gleichzusetzen sind, die Nephilim der ersten Sphäre also, sind hinsichtlich ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten den anderen haushoch überlegen. Sie werden von uns die ›Weisen‹ genannt.«
Ich nickte, obwohl mich seine Worte verwirrten. »Ich dachte immer, die mächtigsten Nephilim wären die Alten.«
»Das trifft insofern zu, als dass die Weisen ihre Macht kaum ausüben – die Alten hingegen schon. Aber wenn es darauf ankommt, sind die Weisen den Alten überlegen. Deren Rang sagt im Übrigen nichts über ihr Alter aus. Auch ganz junge Nephilim können Weise sein. Man wird nicht erst im Laufe des Daseins zu einem solchen, man wird bereits so geboren. Natürlich müssen sie ihre Fähigkeiten schulen – aber entweder hat man sie oder nicht. Denk an das musikalische Genie eines Mozart oder einen außergewöhnlich hohen IQ . Wer darüber verfügt, muss natürlich entsprechend gefördert werden, aber dennoch ist eine Basis vorhanden, die andere mühsam und jahrelang erarbeiten müssten – um dann doch nie an solche Fähigkeiten heranzureichen. Es gibt nur ganz wenige dieser Weisen, und von den meisten weiß man nicht einmal, dass sie solche sind. Ich kenne Nephilim, die sogar deren Existenz leugnen wollen, weil sie so selten in Erscheinung treten.«
»Aber Nathans Verschwinden hat doch nichts mit den Weisen zu tun, oder? Vielmehr mit den Alten, die ihm sicherlich die Untätigkeit der letzten Jahre anlasten!«
»Die ›Weisen‹ würden sich nie in solche Niederungen hinabbegeben«, bestätigte er. »Ob nun ein Nephil seine Pflicht tut oder nicht, ob jemand wie Aurora richtig erzogen wird oder nicht, ist nicht ihre Sache. Für so etwas sind die Alten zuständig – und jene wiederum sind vergleichbar mit den Engeln der zweiten Sphäre, wie sie Dionysios beschreibt.« Seine Finger strichen über die zweite Linie, die er in die Rinde geritzt hatte. »Herrschaften, Mächte und Gewalten nennt er sie. Sie haben unterschiedliche Funktionen – genauso wie die Alten –, doch es würde zu weit führen, das alles zu erklären. Fest steht, dass die Engel oder Nephilim der zweiten Sphäre konkrete Macht über die ihnen Unterlegenen
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