Der Fluch der Abendröte. Roman
ausüben. Während die Weisen über die Welt erhaben sind und sich in deren Belange nur im äußersten Notfall einmischen, obliegt es den Alten, die Nephilim zu führen, zu belehren, zu erziehen, ja, ihnen zu befehlen.«
»Und sie können sie zur Verantwortung ziehen, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen«, murmelte ich.
»Nun, nicht alle sind gleichermaßen daran interessiert – aber ja, der ein oder andere Alte würde gewiss gern einschreiten, wenn jemand wie Nathan sein Liebesglück genießt und jemand wie ich sich in die Berge flüchtet.«
Seine Stimme nahm erst einen beißenden, dann einen verlorenen Tonfall an, ehe ein Ruck durch seine Gestalt ging und seine Hand hochschnellte, um bedächtig über die dritte Rille zu fahren.
»Das nun ist die unterste Sphäre.«
Mir lagen noch viele Fragen zu den Alten auf den Lippen, doch ich schob sie fürs Erste beiseite, um seinen Redefluss nichts ins Stocken zu bringen.
»Die ganz normalen Nephilim«, versuchte ich zu erraten. »Nephilim wie du und Nathan.«
Er runzelte die Stirn – ich wusste nicht, ob wegen meiner Unkenntnis oder weil ich sie so selbstverständlich auf eine Stufe stellte.
»Auch das ist wieder ungleich komplexer. Die erste Sphäre, die der Weisen, befindet sich jenseits unserer Vorstellungskraft. Schon auf der zweiten gibt es jedoch unterschiedliche Funktionen. Und auf der dritten gibt es erst recht Rangunterschiede. Dionysios unterscheidet die Fürsten, die Erzengel und die gewöhnlichen Engel. Und so ähnlich ist es auch bei uns. Ganz zuunterst in der Hierarchie gibt es das Fußvolk – die gewöhnlichen Soldaten im Krieg sozusagen.«
Ich erinnerte mich an die dunklen Scharen, die er damals ausgebildet hatte, um im Kampf gegen Nathan einen Vorteil zu haben. Keinen menschlichen Wesen hatten diese geglichen, eher ferngesteuerten Robotern. »Dann müsstest du den Status eines Erzengels oder Fürsten haben«, murmelte ich, »ähnlich wie Nathan.«
»So ist es«, bestätigte er. »Wobei der Unterschied zwischen Erzengel und Fürst bei uns sehr fließend ist. Der Begriff Erzengel … Erznephil bedeutet zunächst nur, dass man ungleich mehr Fähigkeiten hat als das Fußvolk. Fürst wiederum ist einer, dessen Pflichten über die des gewöhnlichen Kampfes hinausgehen.« Seine Stimme wurde ungeduldig, und ich war mir nicht sicher, ob das nur so war, weil er einen Anflug von Wehmut unterdrücken wollte, der ihn beim Gedanken an die Vergangenheit überkam. »Uns Nephilim geht es letztlich um weitaus mehr, als die Menschen nur zu schützen oder zu töten. Mit den Herausragenden unter ihnen pflegen wir Kontakte. Wir bilden sie aus, fördern sie, nutzen sie dann und wann als Verbündete.«
Wieder blitzte Wehmut in seinen Zügen auf. Wahrscheinlich dachte er an die vielen Manager, für die er seinerzeit Kurse angeboten hatte. In unseren einstigen Gesprächen hatte er nicht alle Menschen als Füllfleisch oder Pack bezeichnet, sondern betont, dass es auch ein paar klug Köpfe unter ihnen gäbe. Als besonders talentiert hatte er jene bezeichnet, die er unter seine Fittiche genommen hatte. Als besonders ehrgeizig, skrupellos und gierig hätte wohl ich sie bezeichnet.
»Das heißt, du zählst zu den Fürsten?«, fragte ich.
Er zuckte die Schultern, offenbar nicht mehr sicher, ob das heute noch galt, und wechselte das Thema.
»Um auf die Erzengel zurückzukommen – in der christlichen Angelologie sind sie häufig Boten. Und ein wenig trifft das auch auf uns Nephilim zu: Es gibt welche, die die Kommunikation untereinander aufrechterhalten und zum Beispiel Botschaften von den Alten ausrichten.«
»Den Alten, den sie zu Gehorsam verpflichtet sind. Genauso wie die Alten den Weisen unterstehen.«
»Nun, die Weisen erteilen eigentlich keine Befehle. Wenn sie wollten, könnten sie die Gedanken der anderen allein kraft ihres Willens lenken. Die Macht der Weisen liegt nicht in ihren offenen Worten, meist auch nicht in ihren Taten. Die Macht liegt in ihrem Geist.«
Bis eben noch hatte er die drei Ritzen im Baum betastet, nun ließ er seine Hand sinken und wich zurück. Das lange, ungewohnte Reden über eine Welt, mit der er eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte, schien ihn erschöpft zu haben.
Auch mir schwirrte der Kopf. Endlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, ahnungslos im Dunkeln zu tappen – doch die vielen Informationen halfen mir nicht zu verstehen, wo Nathan war, warum nicht nur Aurora, sondern auch Mia entführt worden war. Überdies hatte
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