Der Fluch der Abendröte. Roman
standen die Bäume nicht mehr ganz so dicht beisammen, sondern gaben meinen Blick auf den See frei, der das Herbstlaub reflektierte und darum in einem matten Goldton glänzte. Nicht weit von uns entfernt sah man die Dächer der nächstgelegenen Häuser.
»Kannst du mir sagen, was du vorhast?«, fragte Caspar ganz dicht neben mir. Er war mir gefolgt, ohne einen Laut von sich zu geben.
»Orqual«, presste ich hervor. »Sagt dir der Name Orqual etwas?«
»Der Name des Mannes, der mich offenbar auch gesehen hat?«
»Er hat etwas gewusst, genauso wie Marian, und …«
Ich hatte keine Zeit mehr für längere Erklärungen, sondern lief wieder los. Ob zufällig oder nicht – Caspar hatte vorhin jene Richtung eingeschlagen, die nach Lahn und somit unmittelbar zum Haus der Orquals führte. Wenige Minuten später hatte ich die Hauptstraße erreicht, die an ihrem Haus vorbeiführte.
»Ich habe den Namen noch nie gehört«, antwortete Caspar mir jetzt nachdenklich.
»Marian weiß irgendetwas«, murmelte ich. »Und Samuel Orqual auch. Ich muss mit ihnen reden.«
Ich ging, nein lief entlang der Hecke auf das Gartentor zu. Als ich es erreicht hatte, konnte ich einen Blick auf das Anwesen werfen – und schrie entsetzt auf.
Caspar war mir lautlos gefolgt.
»Tja«, murmelte er, »es scheint jemand vor uns da gewesen zu sein.«
Die Haustür der Orquals stand sperrangelweit offen. Sie musste gewaltsam aufgebrochen worden sein, denn sie hing nur lose in den Angeln, und die Klinke schien beschädigt. Der Wind rüttelte daran und verursachte ein leises Quietschen. Ansonsten war nichts zu hören. Totenstille hatte sich über das Haus der Familie Orqual gesenkt.
VIII.
Über einen schmalen Weg, der durch den Garten führte, erreichten wir die aus ihren Angeln gehobene Haustür. Dort angekommen, zögerte ich, die Schwelle zu übertreten. Immer noch war kein Laut zu hören, nicht einmal das Geräusch vorbeifahrender Autos oder Vogelgezwitscher. Irgendetwas lag in der Luft, was ich nicht benennen konnte – es war nicht nur das Gefühl einer vagen Bedrohung, sondern nahezu eine elektrische Spannung.
Ich wandte mich von der Eingangstür ab und blickte in den Garten. Er sah so harmlos aus mit dem kleinen Gartenhäuschen, das erst kürzlich grün gestrichen worden war und ein rotes Giebeldach besaß, den vielen Blumenbeeten, der sorgfältig beschnittenen Hecke. Gepflegt wirkte das Anwesen, und zugleich etwas altmodisch; es verhieß Bürgerlichkeit, aber nicht den unverhohlenen Reichtum wie Caspar von Kranichsteins Besitz.
Susanna Orqual war eine begeisterte Gärtnerin: Im Sommer hatte sie mir regelmäßig Rosen mitgebracht, wenn sie Marian abholte – und im Frühling pflückte sie Narzissen, die sie zum jährlich stattfindenen Narzissenfest im Mai zu einem Kranz band. Doch die Narzissen waren nun längst verblüht, die Hortensien kümmerlich, und anstelle der kräftigen roten Rosen ragte nur dorniges Gebüsch aus der dunklen Erde. Umso auffälliger war der Keramikfrosch, der mit riesigen Glupschaugen neben dem Biotop hockte. Als mein Blick auf ihn fiel, hatte ich das Gefühl, er würde mich anschauen – dreist, herausfordernd und ein wenig feindselig.
Ich wandte rasch meinen Blick von ihm ab.
»Willst du hier Wurzeln schlagen?«, fragte Caspar ungeduldig.
Ich atmete tief durch. Der Blick auf den so normal anmutenden Garten hatte das Gefühl einer diffusen Gefahr nicht vertrieben, aber ich zögerte nicht mehr länger, dieser Gefahr ins Gesicht zu sehen.
Ich läutete zweimal an der Klingel neben der kaputten Haustür. Keine Antwort.
»Nun mach schon«, spottete Caspar. »Wer immer vor uns hier gewesen ist, hat auch nicht darauf gewartet, erst hereingebeten zu werden.«
Langsam, ganz langsam setzte ich meinen Fuß über die Schwelle, machte einen Schritt, noch einen, wich dann wieder zurück.
»Du meine Güte!«, stieß ich aus.
Der Schirmständer, der gleich neben der Eingangstür stand, war umgekippt, und die Schirme waren herausgerollt. Gleich daneben lag der Kleiderständer, den irgendjemand mitsamt Susanna Orquals heller Herbstjacke achtlos mitgerissen hatte.
»Das scheint kein besonders höflicher Besucher gewesen zu sein«, murmelte Caspar.
»Frau Orqual?«, rief ich in die Stille.
Wieder keine Reaktion.
Vorsichtig ging ich weiter. Ich stieg über den umgekippten Kleiderständer hinweg und erinnerte mich an die Male, die ich hier gewesen war und aus grün-weißen Gmundner Keramiktassen Kaffee getrunken
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