Der Fluch der Abendröte. Roman
Gedanken überwältigt.
Deine größte Stärke liegt nicht in deinem Körper, hatte Cara ihr später erklärt, sondern in deinem Geist.
Auroras blaue Augen bohrten sich in die schwarzen des Nephil. Sie unterdrückte ein letztes Zögern und diese tiefe Verwirrung über sich selbst, gab sich stattdessen ganz der Verachtung für diese Kreatur hin und dem festen Willen, Mia vor ihr zu schützen.
Ich bin stark. Ich bin stärker als du.
Die dunklen Augen glichen harten Knöpfen. Kurz hatte sie das Gefühl, von ihnen zurückgestoßen zu werden. Doch sie ließ es nicht zu, stellte sich stattdessen vor, wie die Macht, die eben in ihr gewütet hatte, sich einem Laserstrahl gleich auf die schwarzen Augen des Feindes richtete, in diese Schwärze eindrang, immer tiefer vorstieß, das Gehirn des Nephil erforschte, besetzte, vernichtete.
In ihrem Kopf begann es zu rauschen; Wortfetzen vermischten sich, wirr und beängstigend. Sie verstand nicht, was sie verhießen, nur dass sie in der blechernen Sprache der Awwim ausgesprochen wurden, zuerst als leises Raunen, dann als durchdringender Schrei. Ja, der Nephil schrie. Schrie nicht mit seinem Mund, der immer noch geschlossen war, sondern schrie mit den Gedanken – den Gedanken, die nun ihr gehörten oder vielmehr der Macht, über die sie verfügte, Gedanken, die sie drehen und wenden konnte, wie sie es wollte, die ihr ähnlich ausgeliefert waren wie Staubkörner einem Windstoß.
Aurora richtete sich zur vollen Größe auf. Ohne den Blick von ihm zu lassen, hob sie nun ihre rechte Hand. Der stumme Schrei wurde immer erbärmlicher.
Lass das Schwert fallen!, befahl sie.
Die Macht, die in den Kopf des Nephil eingedrungen war, schien sich erst zu einer Faust zusammenzuballen und dann zu wachsen; so groß wurde sie, dass seine Gedanken und sein Schreien förmlich zerplatzten. Er verstummte. Sein Blick, schon vorher leer und starr, wirkte jetzt wie tot.
Lass das Schwert fallen!, befahl Aurora erneut. Und dann schlaf ein!
Aurora hob nun auch die linke Hand. Obwohl sie Distanz wahrte, hatte sie das Gefühl, mit dem Nephil zusammenzuwachsen. Keine Umarmung der Welt konnte inniglicher ausfallen als diese. Ekel stieg in ihr hoch, aber sie unterdrückte ihn und löste sich nicht aus dieser Umarmung, bis der Nephil daran zu ersticken schien. Zuerst krachte das Schwert mit einem lauten Klirren auf den Boden, dann fiel er selbst. Er wehrte sich nicht dagegen, kippte einfach zur Seite wie ein Mehlsack, streckte nicht einmal schützend seine Hände aus, um den Sturz abzufangen. Reglos lag er nun auf dem Rücken. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch sie sahen nicht mehr, was sich vor ihnen zutrug.
Nun erst gab Auroras Macht ihn wieder frei. Doch so langsam, wie diese in sein Denken eingedrungen war, so schnell ergriff sie wieder von ihr Besitz, einem angespannten Gummi gleich, der zurückschnellt, sobald man ihn loslässt. Es war, als würde der Schlag sie mitten ins Gesicht treffen, schmerzhaft wie ein Peitschenhieb. Aurora keuchte, fühlte, wie etwas sie in die Knie zwang.
Nein, rief sie innerlich, nein, keine Krämpfe! Ich will raus! Ich will mich und Mia befreien!
Kurz hatte sie das Gefühl, mit einem unsichtbaren Wesen zu ringen. Es hatte mehr Hände, mehr Füße als sie, kniff, biss, schlug zu. Mehrmals drohte sie zu unterliegen, doch sie wehrte sich eisern, und irgendwann war das Wesen zu erschöpft oder überdrüssig, um sich weiter mit ihr anzulegen. Es ließ von ihr ab, und ihr Atem beruhigte sich.
Der Nephil lag immer noch reglos vor ihr, Mia stieß ein trockenes Schluchzen aus.
»Was hast du nur getan, Aurora, was …«
Aurora wollte sich zu ihr umdrehen – aber konnte es kaum. Ein unglaubliches Gewicht schien auf ihren Schultern zu lasten und zwang sie zu Boden – nicht die Macht, wie sie instinktiv erahnte, sondern pure Erschöpfung. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so ausgelaugt und erbärmlich gefühlt zu haben. Sämtliche Lebenskraft verflüchtigte sich, floss nicht einfach aus ihr heraus, sondern schoss wie ein Sturzbach dahin. Bald … bald würde nichts mehr übrig bleiben, nur eine leere Hülle.
»Aurora …« Mia war aufgesprungen, beugte sich zu ihr und umklammerte ihre Hände. »Aurora, was hast du nur?«
Langsam hob sie den Kopf und hatte dabei das Gefühl, mindestens eine Tonne Stahl stemmen zu müssen. Sie ahnte, welch elenden Anblick sie bot: Ihre Lippen waren so weiß wie ihr Gesicht, die Augen hatten jeden Glanz verloren; die
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