Der Fluch der Abendröte. Roman
ein Nephil wäre, würdest du es doch fühlen?«
Er runzelte die Stirn, schien sich zu konzentrieren. Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern.
»Ich bin mir nicht sicher. Nun geh!«
Am liebsten hätte ich wieder den Kopf geschüttelt, aber dann fiel mein Blick auf die tote Susanna. Wer immer ihr das angetan hatte – die zerfetzte Seite aus den Protokollen bewies, dass sie bis zuletzt gekämpft hatte: für ihren Mann und für ihren Enkelsohn. Wenn sie den Mut dazu gehabt hatte, dann musste auch ich meine Ängste besiegen.
Ich löste mich aus der Starre und machte mich auf den Weg nach oben. Von dort war nichts mehr zu hören, stattdessen war jedes Mal ein leises Klicken zu vernehmen, wenn ich, so vorsichtig wie nur möglich, meine Füße auf die jeweils nächste Stufe setzte. Der Weg nach unten war mir schon lang vorgekommen – der Rückweg schien eine Ewigkeit zu dauern. Im düsteren Licht war das Ende der Treppe nur zu erahnen, jedes Mal wenn ich glaubte, oben angekommen zu sein, gab es eine weitere Stufe zu erklimmen, und mit jeder Stufe wuchs meine Angst vor dem, was mich dort oben erwartete.
Endlich hatte ich das Ende der Treppe erreicht. Die Tür, die zum Keller führte, war zugefallen. Meine Hand zitterte, als ich sie auf die Klinke legte und sie langsam herunterdrückte. Ich spitzte wieder die Ohren, lauschte wieder angestrengt. Nichts. Wer immer sich dem Keller genähert hatte, musste jetzt reglos verharren. Ich öffnete die Tür, trat in den Gang. Die Eichendielen knarzten unter meinem Schritt – ein Geräusch, das noch viel lauter schien als meine Schritte auf der Treppe. Ich zuckte zusammen, als hätte jemand unmittelbar neben meinen Ohren laut geklatscht. Nach dem düsteren Licht im Keller blendete mich das Tageslicht. Dennoch konnte ich die Gestalt deutlich sehen, die vor mir stand – eine schmale, kleine Gestalt.
Erleichtert atmete ich auf.
»Marian!«
Der Junge, dem ich seit langem Klavierunterricht gab, hatte immer schüchtern und ängstlich gewirkt und, als er während des Gewitters vor der Villa aufgetaucht war, regelrecht panisch. Doch nie hatte er so verzweifelt ausgesehen wie jetzt. Großer Kummer schien auf seinen schmächtigen Schultern zu lasten, schwer, tief – und alt. Als unsere Blicke sich trafen, öffnete er den Mund, aber wie immer kamen keine Laute hervor.
Ich beugte mich zu ihm. »Marian, geht es dir gut?«
Er schüttelte den Kopf, kaute auf den Lippen.
»Marian«, beschwor ich ihn. »Was ist hier passiert? Dein Großvater … und deine Großmutter …«
Ich brachte es nicht übers Herz, die Wahrheit auszusprechen – dass man den einen gewaltsam entführt hatte und die andere tot war. Vielleicht wusste er es, so verzweifelt wie er blickte, vielleicht hatte er es miterlebt und sich irgendwo versteckt. Allerdings: Caspar hatte eben das ganze Haus durchsucht, was bedeutete, dass er von draußen gekommen sein musste. Doch von woher genau?
»Marian … bitte! Ich weiß, du kannst es mir nicht sagen, aber schreib es wenigstens diesmal auf. Alles, was du weißt. Und du weißt doch etwas, du …«
Er starrte mich weiterhin wortlos an, sein verzweifelter Blick wurde nahezu flehentlich. Vorsichtig trat er einen Schritt auf mich zu, aber erstarrte plötzlich wieder. Die Panik, die sich in seinem Gesicht ausgebreitet hatte, schien noch zu wachsen. Die Eichendielen knackten – jedoch weder unter meinen noch unter seinen Schritten. Ein Luftzug streifte mich, und als ich herumfuhr, stand Caspar da, der mir zunächst lautlos aus dem Keller gefolgt war, nun aber einen Satz auf Marian zumachte. Sein Gesicht war gierig verzerrt – und zugleich voller Hass.
»Caspar!«, schrie ich fassungslos.
Woher rührten diese starken Gefühle? Und warum ging er auf den Jungen los, obwohl dieser für mich keine Gefahr darstellte?
Ich begriff es schon im nächsten Augenblick. Caspar hatte beide Hände erhoben, ließ sie nun auf Marian herabsausen, um ihn zu packen, doch der wich blitzschnell zurück, drehte sich um und flitzte davon. Ich sah kaum mehr als einen Schatten – dann war er schon durch die ausgehängte Tür ins Freie geflohen.
»Verflucht!«, tobte Caspar.
Ich brachte keinen Ton hervor.
So schnell bewegte sich kein Kind … kein normales Kind. Und ein normales Kind hätte in Caspar auch nicht diesen Hass, diese Gier ausgelöst. Ein normales Kind hätte er nie als seinen Feind betrachtet.
»O mein Gott!«, stieß ich aus, als ich die Wahrheit begriff.
»Ein
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