Der Fluch der Abendröte. Roman
Licht, in das die Abendröte die Welt tauchte, war so weich und schön – doch die Nacht, die bald auf sie folgen würde, umso dunkler und unheimlicher.
Als ich den Kopf senkte und die Augen wieder öffnete, war ich fast blind – doch das machte keinen Unterschied. Bald würde ich ohnehin nichts mehr sehen.
»Los!«, erklärte ich entschlossen. Ich betrat den Stollen und ging vermeintlich selbstsicher an Caspar vorbei. Wie erwartet, konnte ich schon nach wenigen Schritten nur noch Konturen erkennen, und schließlich verloren sich auch diese in Schwärze.
»Es soll Nephilim geben, die im Dunkeln sehen können«, meinte Caspar, der mir gefolgt war. Sein zweifelnder Tonfall verriet, dass er nicht zu diesen gehörte.
»Und es soll Menschen geben, die sehr erfindungsreich sind«, gab ich zurück. Ich kramte in der Tiefe meiner Jackentasche und fand, wonach ich suchte – meinen Autoschlüssel. Er hing an einem Anhänger, den mir Nele einmal geschenkt hatte, und auf diesem Anhänger war ein winzig kleines, blaues Lämpchen befestigt, das man für jeweils fünfzehn Sekunden anknipsen konnte, um in der Finsternis das Schloss zu finden.
Das Licht reichte kaum aus, um weiter als einen halben Meter zu sehen, und es leuchtete auch nicht stark genug, um zu erkennen, ob die Wände aus Stein, Holz oder Stahl errichtet worden waren, doch immerhin verhinderte es, dass ich gegen eine dieser Wände lief. Die Luft schien feucht und staubig zugleich. Kälte legte sich nicht nur über jede Faser meiner Haut, sondern drang auch in meine Lungen. Einmal gabelte sich der Weg, und ich nahm entschlossen den breiteren Gang, unsicher, ob das nicht ein Fehler war.
Eine Weile hörte ich nur meinen eigenen Atem und unsere Schritte, doch dann gesellte sich ein unerwarteter Laut dazu: ein Summen, hoch und melodisch.
Stammte es von Marian? Konnte der überhaupt, wenn auch nicht sprechen, so doch summen? Und wollte er mir mit dem Ton Ähnliches sagen wie mit den Tonleitern, die er auf dem Klavier gespielt hatte?
»Wenn dieses Balg nur sein Maul halten würde!«, schimpfte Caspar.
»Ich dachte, du magst Kunst – und Musik gehört dazu.«
»Wenn man sie beherrscht.«
»Nun, dann hättest du Nathan lieben müssen, so wie er Cello gespielt hat.«
Als Antwort kam nur ein Knurren, dann gingen wir schweigend weiter. Die Decke wurde niedriger, ich musste den Kopf einziehen, um nicht dagegenzustoßen. Derart gebückt kam ich nur viel langsamer voran. Die Kälte wurde beißender, die Luft modriger. Ich glaubte, noch nie eine solch absolute Finsternis erlebt zu haben wie in den Momenten, wenn die bläuliche Lampe erlosch. Nach und nach hatte ich das Gefühl, nicht nur in den Berg vorzudringen, sondern in ein Niemandsland – unwirklich, unheimlich und losgelöst von allen Gesetzen der Welt. Nur Marians Summen gab mir den Ansporn, immer weiterzugehen – und der Gedanke an Aurora. Ein Gutes hatte die Schwärze – sie schien alles zu verschlucken, nicht nur das Licht, sondern auch mein Misstrauen gegenüber Caspar, die Befürchtung, dass er mehr wusste, als er zugab, und alles ein ausgeklügelter Plan war, bei dem er selbst seine Hände im Spiel hatte. In diesem Augenblick spielte das alles keine Rolle. Es zählte nur, dass ich nicht ganz alleine hier war.
Einmal stieß ich fast mit ihm zusammen, und diese kurze Berührung löste widerstreitende Bedürfnisse aus – einerseits zurückzuzucken, andererseits, mich an ihm festzuklammern.
»Stell dir vor, wir finden nie wieder hinaus – und du musst die letzten Stunden deines Leben mit mir in absoluter Dunkelheit verbringen.«
Bis vor kurzem wäre das ohne Zweifel mein schlimmster Albtraum gewesen, nun schien mir ein anderer Gedanke viel unerträglicher: Dass nicht nur ich, sondern auch Aurora auf ewig in dieser Finsternis gefangen wäre.
Wo war sie nur? Warum verrieten mir keine neuen Visionen etwas über ihr Gefängnis?
Und warum verstummte plötzlich Marians Summen?
Ich blieb stehen.
»Marian!«, rief ich.
Anstelle des Summens hallte ein seltsamer Laut von den Wänden. Zunächst hielt ich ihn für ein Krächzen, dann wurde ein Quietschen daraus – vielleicht das Quietschen einer Tür, der Tür, die zu Auroras Gefängnis führte …
»Marian!«, rief ich wieder.
In diesem Augenblick begann der Schein des blauen Lämpchens zu zittern. Die Batterie schien zur Neige zu gehen. Während ich verzweifelt wieder und wieder auf das Knöpfchen drückte, drängte sich Caspar an mir vorbei. Er kam
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