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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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mein Gesicht.
    »Verdammt!«, hörte ich Caspar fluchen. »Dieses Kind ist so viel schneller als ich! Vor Jahren hätte es noch keine Chance gehabt, mir zu entkommen!«
    Hatte er sich bislang als spöttisch, distanziert und vermeintlich unbeteiligt gezeigt, hatte Marian jetzt offenbar seinen Ehrgeiz geweckt – und Erinnerungen.
    Wie viele Nephilim-Kinder hat er wohl getötet?, fragte ich mich unwillkürlich. Kinder des Feindes … in dem sensiblen Alter von sieben bis vierzehn nicht stark genug, sich gegen einen ausgewachsenen Schlangensohn zu wehren …
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte, nicht daran zu denken. Die Bäume standen mittlerweile nicht mehr ganz so dicht beisammen. Unter uns lag Hallstatt und dahinter der See, auf dessen leicht gekräuseltes Wasser die Sonne ein kaltes, weißes, nicht länger goldenes Licht warf. Wir mussten ganz in der Nähe der Zahnradbahn sein, die die Touristen zum Eingang zum Salzbergwerk hochfuhr. Als ich aufmerksam lauschte, glaubte ich aus der Ferne Stimmen zu hören, die der Wind zu mir trug.
    Und weiter ging es den Berg hinauf – Caspar folgte Marian, und ich folgte Caspar. Bald war der Boden nicht mehr von Laub, sondern von Lärchennadeln bedeckt. Sie knackten unter meinen Füßen und verhinderten, dass ich ausrutschte.
    »Dieser Sartael, der im Protokoll erwähnt wird«, stieß ich keuchend aus, als ich wieder einmal zu Caspar aufschloss. »Weißt du mehr über ihn?«
    »Soweit ich mich erinnere, ist er einer der einflussreichsten unter den Alten der Wächter.«
    »Könnte … könnte er das alles veranlasst haben?«
    Caspar zuckte mit den Schultern. »Wenn ich mich nicht irre, gehört Sartael zu den Diplomaten. Und die wiederum sind nicht …«
    Er brach ab. Über uns war ein Knirschen zu hören – so, als würde ein uraltes, verrostetes Tor geöffnet werden. Und tatsächlich: Als wir die nächsten zehn Meter überbrückt hatten, stießen wir auf einen Eingang zum Bergwerk. Er befand sich unter einem Steinbogen, den man direkt in einer steilen Felswand errichtet hatte. Und er stand weit offen.
    Mühsam rief ich mir ins Gedächtnis, was ich über das Bergwerk wusste. Die Touristen betraten es bei den Führungen über den Christina-Stollen, und dann gab es noch den berühmten Franz-Joseph-Stollen, der im 19. Jahrhundert errichtet und nach dem damaligen Kaiser benannt worden war. Aber wahrscheinlich führten noch weitere Stollen in den Berg. Über dem Eingang war ein Schild angebracht, das zwei überkreuzte Hammer zeigte, und gleich dahinter führten Schienen ins Innere.
    Von Marian war nichts zu sehen. Zögernd ging Caspar zum weit geöffneten Tor, blieb auf der Schwelle zum Stollen stehen und sah sich nachdenklich um.
    Ich folgte ihm, trat in den langen Gang. Gut zehn Meter weit fiel das Licht auf die grauen Wände, dahinter verlor sich alles in Schwärze.
    »Marian!«, rief ich. »Marian!«
    Caspar lauschte, aber schien nichts zu hören.
    »Wir müssen ihm folgen!«, erklärte ich energisch.
    »Ohne etwas zu sehen?«
    »Du willst mir doch nicht sagen, dass du Angst hast!«
    Nun, ich selber hatte Angst, als ich in die Dunkelheit starrte und mir ausmalte, was dort auf mich warten könnte – obendrein mit Caspar an meiner Seite. Und dennoch: Auroras Gefängnis … vielleicht befand es sich nicht in irgendeinem Keller, sondern in einem unterirdischen Stollen … einem Stollen des Salzbergwerks.
    Ich atmete tief durch, fühlte plötzlich rötliches Licht auf mich fallen. Durch die Wolkendecke, nicht dicht und grau, sondern aus dünnen, weißen Fäden gesponnen, stahlen sich ein paar Strahlen der untergehenden Sonne und entfalteten für wenige Augenblicke ihre ganze blendende Kraft. Kurz waren die Strahlen eine Wohltat, erschien sie mir wie ein letzter Gruß von einer Welt, in der noch alles licht, warm und in Ordnung war – und zugleich wie ein Ansporn, die Hoffnung nicht aufzugeben. Doch als ich die Augen schloss, mein Gesicht in die Strahlen hielt und aus der Wärme Kraft und Mut ziehen wollte, musste ich an jenen Augenblick auf der Tribüne denken, als das Licht mich ebenso geblendet und das Erste, was ich danach erblickt hatte, Auroras ebenso fremd anmutendes, wie entsetztes Gesicht gewesen war. Heute wusste ich, dass dies der Moment gewesen war, in dem sich irgendetwas verändert hatte, irgendetwas aus den Angeln gehoben worden war, und der Zauber, der in diesem letzten Licht des Tages lag, schien plötzlich ebenso trügerisch wie gefährlich: Ja, das

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