Der Fluch der Abendröte. Roman
nicht weit. Ein Rumpeln, ein schmerzhafter Aufschrei und schließlich ein Fluch verrieten mir, dass er gegen ein Hindernis gelaufen war. Wieder drückte ich das Knöpfchen; das bläuliche Licht flackerte auf und fiel auf ein Tor am Ende des Gangs. Dann sah ich nichts mehr. Das blaue Licht war erloschen.
IX.
Die Schwärze hatte etwas Gefräßiges. Sie drang in mich ein, erfüllte mich ganz und gar, ließ mich jede Orientierung verlieren. Wo war oben, wo war unten? Wo war Caspar?
Ich streckte meine Hände aus und wusste nicht, wovor ich mich mehr fürchtete: ins Leere zu greifen oder ihn zu berühren.
Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln, Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus.
»Verfluchtes Ding!«, schimpfte Caspar.
Ich wich zurück, bis ich begriff, dass er nicht mich meinte, sondern die Lampe. Im nächsten Augenblick entriss er sie mir – so schnell, dass ich die Berührung seiner Spinnenhände kaum bemerkte. Ich vernahm ein Knacken, als er wieder und wieder versuchte, sie einzuschalten.
Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder. Pures, kaltes, nacktes Nichts. Kein Hauch eines Lichtscheins.
Dann plötzlich leuchtete die Lampe mit einem neuerlichen Knacken wieder auf. Das grelle Licht schnitt in meine Augen. Caspar lachte auf und ließ den blauen Schein auf meinem Körper kreisen.
»Du und ich in der Dunkelheit«, spottete er, »das hätte interessant werden können …«
Ich trat energisch auf ihn zu, scheute mich nicht, ihn zu berühren, sondern packte ihn bei der Hand, um den Schein der Taschenlampe auf die Tür zu lenken, auf die wir gestoßen waren. Sie erinnerte mich tatsächlich an das Tor einer mittelalterlichen Stadt – sie war aus schwerem Eichenholz mit eisernen Scharnieren gebaut worden und sah sehr stabil aus. Prüfend schlug ich dagegen, das Pochen hallte durch den Gang, aus dem wir gekommen waren, doch von der anderen Seite der Tür ließ sich kein Geräusch vernehmen.
»Aurora!«, schrie ich. Wahrscheinlich war es nutzlos, nach ihr zu rufen, aber ich konnte nicht anders. Zu groß war die Hoffnung, dass Marian uns nicht willkürlich hierhergelockt hatte, sondern aus einem bestimmten Grund.
»Lass es mich versuchen!«, sagte Caspar.
Auch er klopfte gegen die Tür, unvergleichlich kraftvoller als ich. Das Holz knirschte prompt. Doch die Tür bewegte sich nicht einmal um einen Millimeter.
»Verdammt!«, schimpfte er. Er kniff die Lippen zusammen, die im Licht der Lampe bläulich wirkten, und ging dann zwei Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Wieder knirschte es bedrohlich, doch sie gab nicht nach.
»Bitte«, murmelte ich, »bitte … versuch es noch einmal! Aurora könnte da drinnen sein.«
Kurz trafen sich unsere Blicke – meiner war beschwörend, seiner verächtlich. Doch gerade aus diesem Widerspruch schien er Kraft zu ziehen. Wieder nahm er Anlauf, wieder warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür, und diesmal sprang sie mit einem grässlichen Quietschen, das noch eine Weile in meinen Ohren nachhallte, auf. Durch die Wucht des Aufpralls war ihm die kleine Lampe aus der Hand gefallen. Ich bückte mich schnell, hob sie auf. Sie funktionierte wieder nicht auf Anhieb, und ich musste mehrmals das Knöpfchen drücken, ehe das Licht wieder aufleuchtete. Ich hob die Lampe weit über meinen Kopf, beleuchtete den Raum, der sich hinter der schweren Tür befand – nein, nicht einfach ein Raum … ein Gefängnis.
In so vielem glich es dem Kerker aus meinem Traum: Der Geruch war modrig, die Wände feucht, das Licht war fahl.
Doch etwas war anders. Aurora war in meinem Traum zwar an einem ähnlichen Ort eingesperrt gewesen – doch sie hatte sich frei bewegen können. Der Gefangene, auf den wir hier stießen, war hingegen in Ketten gelegt worden, in große, schwere Eisenketten.
Das Licht der Lampe wurde von blauen Augen reflektiert. Entsetzt schrie der Gefangene erst meinen Namen, dann den von Caspar.
Ich hingegen konnte nicht schreien, konnte nur flüstern, erstickt und heiser. »Was … was …«
Das Licht der Lampe erlosch wieder. Doch ich hatte genug gesehen.
Mia wich zurück, als die fünf dunklen Gestalten auf sie zukamen, und stieß fast mit Aurora zusammen. Auch deren erste Regung war es, zu fliehen – doch der einzige Weg, der von diesen Gestalten wegführte, führte zurück in den Kerker, und dorthin wollte sie nicht! Sie wollte raus hier!
Sie drängte sich an Mia vorbei, versuchte mehr zu erkennen.
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