Der Fluch der bösen Tat
Haartracht der Jungen konnte man den Lauf der Zeit ablesen. Ihre Haare wurden von Jahr zu Jahr kürzer.
»Haben sie auch die Klassenlisten?« fragte Per und betrachtete die Bilder.
»Warum, Herr Kommissar?«
»Wir hätten gern die Namen zu einigen der Gesichter.«
Gustav Hansen richtete sich auf und sah Per an.
»Ich bin fünfzig Jahre lang Lehrer gewesen«, sagte er. »Ich kann mich an alle Kinder erinnern, die ich unterrichtet habe. Ich brauche keine Listen. Ich nahm sogar einmal an einem sogenannten Fernsehquiz teil, wo sie versuchten, mich aufs Glatteis zu führen. In aller Bescheidenheit muß ich sagen, daß es ihnen nicht gelungen ist. Ich möchte darauf hinweisen …«
»Nichts für ungut«, unterbrach ihn Per. Lise hörte die Ungeduld in seiner Stimme, aber sie selbst fand den Oberlehrer faszinierend und charmant. Bei Gelegenheit würde sie einen Artikel über ihn schreiben. Hier stand ein Relikt des alten Dänemark. Es würde ein schönes kleines Porträt werden.
»Wie viele von den Jungs hier sind Jugoslawen?« fragte Per.
Gustav Hansen betrachtete die Fotos mit so etwas wie Wehmut oder Liebe, dachte Lise, ehe er sagte: »Wir hatten einige in jenen Jahren. Dreizehn kamen aus jugoslawischen Familien. Sechs davon waren Mädchen. Still, aber tüchtig. Das waren sie. Ja, das waren sie. Schrecklich, was heute da unten geschieht. Zu meiner Zeit in der Schule waren sie friedlich. Sieben Jungen … aber wir hatten ja keine Ahnung, ob sie Kroaten waren oder …«
Jetzt unterbrach ihn Lise.
»Wissen Sie noch, wer von ihnen aufs Gymnasium kam?«
»Aus diesen Jahrgängen? Warten Sie. Nicht viele. Da waren Janos und Jaumin. Und sonst … ja. Nein, das war ein Mädchen. In Physik ein wenig schwach, aber sonst … warten Sie … es wurde ja langsam besser. Ihr Dänisch, meine ich. Bei denen, die hier geboren wurden. Die Muttersprache ist ja wichtig.«
Gustav Hansen war in Gedanken versunken. Er schien in seinen Erinnerungen aufgehen zu wollen.
»Gab es unter ihnen auch Blonde mit blauen Augen?« fragte Lise.
Gustav Hansens Gesicht leuchtete, er tauchte aus seinen Träumereien wieder auf.
»Das ist ja eine extraordinäre Frage«, sagte er. »An ihn habe ich gerade gedacht. Ich habe ihn ja auch schon erwähnt. Janos.«
Gustav Hansen nahm eines der Klassenfotos und zeigte auf eine sehr junge Ausgabe von Vuk. Er stand unter seinen Klassenkameraden und lächelte breit in die Kamera. Der Junge an seiner Seite war Mikael, und zu seiner Rechten stand ein anderer Junge, der Lise bekannt vorkam. Sie nahm das Foto in die Hand. Der kleine blonde Jugoslawe, auf den Hansen gezeigt hatte, erinnerte sie an irgend jemanden, aber es war der Junge zur Rechten, den sie erkannte.
»Was ist?« sagte Per.
»Ist das nicht Peter Sørensen von den Fernsehnachrichten?« sagte sie und sah Gustav Hansen an.
»Völlig richtig.«
»Janos?« sagte Per.
»Janos Milosovic. Ein außergewöhnlich begabter Junge. Ich wüßte gern, was aus ihm geworden ist«, sagte Hansen.
»Das wüßten wir auch gern«, sagte Per und kontrollierte seine Liste. Der Name war vermerkt.
Gustav Hansen sagte unwirsch, fast als halte er sie für etwas unkonzentrierte Kinder: »Ja, aber fragen Sie doch seinen guten Freund. Vielleicht weiß er was. Ich bin durchaus ein wenig stolz, ihn als Schüler gehabt zu haben. Man hat ja gleichsam das Gefühl, selbst etwas dazu beigetragen zu haben. Die Jugendjahre sind ja außerordentlich wichtig. Die Prägung der jungen Menschen.«
»Wovon reden Sie?« fragte Per und konnte seine Irritation nicht länger verbergen.
»Vom Fernsehkorrespondenten Peter Sørensen natürlich. Von den Nachrichten. Fräulein Carlsen hat ihn doch eben selbst erwähnt. Er wohnte mit Janos Tür an Tür. Sie waren sehr gute Freunde.«
Per überlegte einen Augenblick.
»Hast du die Nummer von den Nachrichten im Kopf, Lise?« sagte er und holte sein Handy hervor.
Peter Sørensen war gerade im Studio, aber sie bekamen seine Handynummer. Er sagte, er sei gegen 19 Uhr zurück, aber dann müsse er redigieren und habe alle Hände voll zu tun, aber wenn sie so um halb neun kommen könnten, wäre es in Ordnung. Per erklärte ihm, worüber sie gern mit ihm reden würden, und er klang sehr interessiert, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, daß er vorher noch redigieren mußte.
Sie gingen noch in der letzten Schule vorbei, die aber keine neuen Kandidaten brachte. Dann suchten sie sich ein Restaurant in Nørrebro und aßen zusammen, fast
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