Der Fluch der bösen Tat
auszufüllen hatte. Seine Chefin würde beifällig nicken, wenn sich der Aufwand lohnte, und würde ihm wegen mangelnden Überblicks einen Rüffel verpassen, wenn sich das Ganze als Schlag ins Wasser erwiese. Per hatte ein schlechtes Gewissen, daß er sich an der Arbeit nicht beteiligt hatte, aber es war Routine, und in den nächsten 48 Stunden mußte er auf dem Damm sein. Außerdem mußte er zugeben, daß er nur ungern eine Nacht mit Lise verpassen würde. Er war eigentlich selbstsicher genug, hatte aber dennoch Angst, daß sie ebenso plötzlich aus seinem Leben verschwinden könnte, wie sie aufgetaucht war. Sie sorgte sich um ihren Mann. Das war möglicherweise ein schöner menschlicher Zug, zeigte aber auch, daß sie nach wie vor Gefühle für ihn hegte, und er hatte schon erlebt, daß die untreue Gattin ins sichere Nest zurückgekehrt war. Früher hatte ihm das ausgezeichnet in den Kram gepaßt, aber er war sich alles andere als sicher, ob es ihm diesmal auch gefallen würde. Ihre Beziehung entwickelte sich zu weit mehr als einer Affäre.
Lise wirkte rastlos, als sie ihre Tour zu den drei Schulen begannen, die sie ausgewählt hatten. Er wußte, daß sie den Vormittag damit verbracht hatte, Freunde und Familienmitglieder anzurufen, aber niemand hatte Ole gesehen. Eine Fahndung wollte sie noch nicht beantragen, sondern noch einen Tag warten. Er hatte nichts aus der Wohnung mitgenommen. Das Auto stand vor der Tür, aber sie konnte den Schlüssel nicht finden. Nur der Reserveschlüssel hing an seinem Haken in der Küche. Es war wie die Geschichte von dem Mann, der runtergeht, um Zigaretten zu holen und nie mehr wiederkommt. Sie borgte sich Pers Handy und rief zu Hause an, aber es meldete sich immer nur der Anrufbeantworter.
Die erste Schule brachte kein Ergebnis. Sie sahen sich die Klassenfotos an, und die Schule legte ihnen eine Liste mit den Schülernamen vor, aber es hatte nur zwei Jugoslawen gegeben, und sie hatten das falsche Profil. Der eine wohnte nach wie vor im Viertel und war mit einer Dänin verheiratet. Der andere war nur vier Wochen zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Die nächste Schule lag in Nørrebro, ein altmodisches rotes Gebäude. Jetzt am Nachmittag, ohne Kinder und Lehrer, wirkte sie wie ausgestorben. In der Tür erwartete sie ein älterer Herr. Er schien dort schon eine ganze Weile gestanden zu haben. Er war ungewöhnlich gut gekleidet, er trug eine altmodische Tweedjacke mit Weste und Schlips und eine graue Hose mit Bügelfalte. Sein weißes Haar war noch dicht und füllig. Sein Gesicht war ein wenig rot, als hätte er sich besonders gründlich rasiert. Lise schätzte ihn auf siebzig oder mehr. Er glich einem richtigen alten Oberlehrer, dem letzten Vertreter einer aussterbenden Rasse. Er war ganz die alte Schule, der Begriff »distinguiert« schien am besten auf ihn zu passen. Er trat einen Schritt vor und reichte ihnen die Hand.
»Gustav Hansen, Oberlehrer a. D.«
»Lise Carlsen, dänischer PEN und Redakteurin bei Politiken. «
»Toftlund, Kriminalkommissar.«
»Ausgezeichnet«, sagte Gustav Hansen. Seine Hand war trocken und kühl. Er hatte einen tiefen Bariton und sprach bedächtig und sehr deutlich. Mit langsamen, aber festen Schritten führte er sie durch einen Flur und eine Treppe hinauf und erklärte: »Ich weiß, Sie sind sehr beschäftigt, und ich wurde gründlichst über das Ziel Ihrer Nachforschungen orientiert. Ich glaube daher, ich habe bereits das Notwendige vorbereitet, während ich auf Ihr Erscheinen wartete. Die Direktorin war mir dabei behilflich, sie hat auch ihr Büro zur Verfügung gestellt.«
Er machte die Tür zum Direktorenzimmer auf. Die Schulleiterin war eine kleine, dünne Frau in den Vierzigern, die freundlich grüßte, aber zu verstehen gab, daß sie bei Gustav Hansen sicher in den besten Händen seien.
Gustav Hansen breitete neun Klassenfotos wie Spielkarten auf dem Schreibtisch aus und erklärte mit seiner klaren, pädagogischen Stimme: »Das sind sie also. Die Klassenfotos der Abschlußklassen 1984, ’85, ’86, und ’87. Es waren anstrengende, aber gute Jahrgänge. Vielleicht noch immer sehr geprägt von einer etwas zu liberalen Erziehung, sozusagen Opfer des großen Tohuwabohus der siebziger Jahre, aber klug waren sie, die Kinder. Das muß man schon sagen. Das muß man schon sagen.«
Es waren Farbfotos, die einander zur Verwechslung glichen. Die jungen Menschen waren in Reihen aufgestellt und blickten direkt in die Kamera. Nur an der
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