Der Fluch der bösen Tat
zugleich geworden. Die neuen Autos hatten zugenommen und die Bettler auch. Die Gegensätze waren jetzt größer. Die blassen Menschen glitten wie Schatten durch die Bahnhofshalle. Drei betrunkene Männer tranken Starkbier in einem Café und zankten sich wegen eines Fußballspiels. Anscheinend hatte der Wohlfahrtsstaat Risse bekommen. Oder hatte die Mehrheit nur endgültig beschlossen, die ausgestoßene Minderheit sich selbst zu überlassen?
Um Mitternacht ging er die Treppe zu seinem Zug hinunter. Der Zug schien halb leer zu sein. Er war allein und konnte sich nun langsam entspannen. Im Abteil gab es ein Handwaschbecken, die beiden Betten waren frisch bezogen. Er wusch sich und zog die neuen Sachen an. Es war eine lange Reise gewesen, aber er war überzeugt, sämtliche Spuren hinter sich verwischt zu haben. Der Umweg hatte nicht nur dazu gedient, in der dänischen Menge unterzutauchen und einer unter vielen zu werden. Er wollte auch sichergehen, daß ihn weder der Kommandant noch seine Iraner beschatteten. Vielleicht taten sie das gar nicht, aber Vuk hatte vier Jahre Krieg überlebt, weil er keine unnötigen Risiken einging. Sorgfalt und Vorsicht kosteten Zeit, aber sie waren es wert. Daher gönnte er sich noch immer keinen Schlaf. Der mußte bis zum Hotel warten. Er schaute aus dem Fenster und ließ die Dunkelheit vorüberjagen. Die Straßen waren leer. Nur hin und wieder fegten die langen Lichter eines einsamen Autos über eine schwarze Landstraße. Nachts schien Dänemark leer zu sein. Er war ganz allein in seinem Waggon und lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe.
Auf der Großen-Belt-Fähre trank er eine Tasse Kaffee und aß ein Käsebrot. Die wenigen Reisenden kümmerten sich nicht um ihn. Er ging an Deck. Es war jetzt ziemlich frisch, und niedrige Wolken trieben an einem Halbmond vorbei. Es roch gut nach Meer und Diesel. Die Küste Fünens verschwand, und überrascht bemerkte er die lange, niedrige Brücke, die aus dem Ufer herauswuchs. Sie war beleuchtet, und an der Insel Sprogø tauchten majestätische Pylonen auf. Sie waren in Licht gebadet und reichten bis zum Himmel. Sie waren weit gekommen mit ihrer Brücke, während er weg gewesen war. Damals war sie nur eine Idee gewesen. So riesig hatte er sie sich nicht vorgestellt. An den Fundamenten der Pylonen sah er Schiffe, und an den Spitzen blinkten Lichter. Er fand Brücken imponierender als Kathedralen. Sie waren die Kirchen und Tempel der modernen Zeit, die gewaltigsten Bauwerke, die der Mensch heutzutage errichtete. Er rauchte eine Zigarette und konnte sich gar nicht satt sehen. Vermutlich war es das letzte Mal, daß er den Großen Belt auf einer Fähre überquerte. Und es war zweifelhaft, ob er je über die fertige Brücke fahren würde. Es machte einen großen Eindruck auf ihn, daß ein kleines Volk wie das dänische einen solchen Bau über dem Wasser errichten und gleichzeitig einen Tunnel unter dem Meeresboden graben konnte. Als ihn die Lautsprecherstimme in den Zug hinunterrief, wurde er ein wenig melancholisch und traurig. Er hätte gern noch mehr Zeit gehabt, um einfach nur zu gucken. Hier gab es etwas Ewiges, das ihn und den sinnlosen Krieg, den er eben verlassen hatte, überdauern würde. Er war dankbar für den Anblick, und irgendwie nahm er ihn als Aufmunterung – als gutes Omen. Als Beweis dafür, daß er die richtige Reiseroute gewählt hatte.
Das Hotel in Kopenhagen lag in einer Nebenstraße der Istedgade. Er kannte Vesterbro und hatte das Viertel bewußt ausgewählt. Die Leute in Vesterbro stellten nicht zu viele Fragen und hegten Mißtrauen gegen die meisten Autoritäten. Sie wollten in Frieden gelassen werden und ließen darum auch die anderen in Frieden. Von Osten wehte ein steifer Wind. Er war ein erster Vorbote des Herbstes, er war so scharf, daß sich die Leute die Jacken zuknöpften, aber die Sonne hatte noch Kraft. Auf der Straße herrschte bereits lebendiges Gedränge. Es war eine andere Art Leben als auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Alles war heruntergekommener, die Autos waren kleiner, selbst die Geschäfte mit all ihrem Überfluß erschienen klein. Türkische oder vielleicht arabische Frauen liefen verschleiert herum, und die Sexshops waren geschlossen. Aber vor allem die Fahrräder machten den Unterschied. Vuk liebte den Anblick der Fahrräder, besonders die Frauen mit ihren kräftigen braunen Beinen hatten es ihm angetan, wenn sie auf ihren neuen funkelnden Rädern vom Einkauf bis zu Kindern alles transportierten.
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