Der Fluch der Druidin
dass der König Sumelis bestrafen würde, doch wie, erschien ihr in ihrem tiefergehenden Entsetzen über Nandos Verrat beinahe bedeutungslos. Sumelis’ Gedanken kreisten einzig um Nandos unvermittelten Sinneswandel: weshalb es ihm plötzlich nichts mehr auszumachen schien, sie in den möglichen Tod zu schicken, sein Versprechen ihr gegenüber zu brechen. Sollte Boiorix ihre Hinrichtung befehlen, würde Sumelis’ Blut an Nandos Händen kleben, aber dies schien ihm gleichgültig geworden zu sein.
Warum?
Sumelis schossen abermals Tränen in die Augen. Der Krüppel verstand es als Ausdruck ihrer Erleichterung. Unbeholfen tätschelte er ihre Hand. »Esst, Herrin! Boiorix geht es gut. In den letzten zwei Nächten hat er sorglos geschlafen. Nun, sorglos vielleicht nicht, doch zumindest ohne Alpträume.«
Sumelis riss sich zusammen. Sie hatte ihre Stimme halbwegs unter Kontrolle, als sie heiser fragte: »Was ist hier los, mein Freund? Was wird jetzt mit mir geschehen? Und was geht hier im Lager vor sich? Ich konnte den ganzen Morgen über die Erde beben spüren.«
Der Krüppel hatte einen schmucklosen hölzernen Becher in den Händen gehalten, den er jetzt mit einer sorgfältigen Bewegung neben sich stellte. Er saß auf dem Boden, in einer unbeholfenen Stellung, den gesunden Arm um seine Knie geschlungen.
»Das, was Ihr gehört habt, sind Truppen gewesen, Boten, schnelle Reiter. Die Römer haben den Padus überschritten, sich formiert und stehen nur noch wenige Tagesmärsche von uns entfernt. Es wird schon bald zum Krieg kommen. Boiorix hat alle Hände voll zu tun. Einige sagen, wir hätten die römischen Legionen angreifen sollen, bevor sie sich formiert haben. Andere behaupten, es mache keinen Unterschied. Umso glorreicher wir sie schlagen, desto offener und schutzloser werde Italien am Ende vor uns liegen. Wieder andere streben, wenn irgend möglich, noch immer eine friedliche Einigung mit den Römern an. Das ist das eine.« Der Krüppel rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn, um den Schweiß fortzuwischen, der ihm in die Augen rann. »Was das andere betrifft – Euch selbst, nun …« Er zögerte erneut. »Ihr werdet leben.«
Eine Zeitlang schwiegen sie. Sumelis vermutete, sie hätte Erleichterung empfinden sollen, irgendetwas, doch dem war nicht so. Weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, schob sie sich ein Stück kalten Braten in den Mund. Das Fleisch war zäh und trocken, deshalb äugte sie begehrlich auf den randvoll mit offenbar frischem Kräutertee gefüllten Becher, der noch immer neben dem Krüppel stand. Der Helvetier schien ihren durstigen Blick indes nicht zu bemerken.
»Es ist meine Schuld, wusstet Ihr das?«, fragte er leise.
»Was ist Eure Schuld?«
»Euer Hiersein. Ich war es, der Boiorix von Euch erzählt hat. Der ihm vorschlug, den Fluch einer Druidin durch eine andere aufheben zu lassen – durch die mächtigste Zauberin, von der mein Volk jemals gehört hat. Die
ich
jemals gesehen habe.«
Sumelis schwieg.
»Ich habe Euch hier nicht zum ersten Mal gesehen, Sumelis. Ich habe Euch schon einmal getroffen. Euch und Eure Mutter. Nun, vielleicht nicht direkt getroffen, ich war nur – sagen wir, ich war ein Zeuge. Ihr müsst wissen, ich bin schon früher Geisel gewesen. Mein Bruder war schon immer der Meinung, ich wäre bei anderen Stämmen nützlicher als bei meinem eigenen. Daher, als meine Familie vor vielen Jahren ein Handelsabkommen mit Eurem Großvater schloss, wurde ich als Unterpfand nach Alte-Stadt geschickt. Caran, Euer Großvater, zeigte sich damals sehr großzügig. Ich war noch sehr jung, dennoch erkannte er meine Klugheit, verachtete mich nicht für meinen Körper und gab mich in die Obhut der Druiden. Ich würde ein guter Geweihter werden, befand er, doch der damalige Hohedruide sah das anders. Er wollte mich nicht ausbilden. Ein Jahr lang verrichtete ich niedere Tätigkeiten im Heiligtum: Unkraut jäten, Böden putzen, manchmal sogar Kranke pflegen. Bis die Kimbern an Alte-Stadt vorbeizogen und von dort zu den Helvetiern. Sowie sie sich mit meinen Leuten verbrüderten, hatte das weitreichende Folgen für Bündnisse und Abkommen. Carans Handel mit meiner Familie wurde hinfällig und ich zurück nach Hause geschickt. Das war vor zehn Jahren. Versteht Ihr?«
Die Rehaugen huschten über Sumelis’ Gesicht und wieder fort. »Ich war dabei, damals auf den Mauern von Alte-Stadt, als Eure Mutter Dago tötete. Ich habe ihre Macht gesehen und die Eure, Sumelis. Ich habe
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