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Der Fluch der falschen Frage

Der Fluch der falschen Frage

Titel: Der Fluch der falschen Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lemony Snicket
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Längerfristig«, sagte meine Mentorin und ging flotten Schritts auf eine teppichbelegte Treppe mit beängstigend zierlichem Geländer zu. Weder Theodora noch sonst jemand mussten mir erklären, dass » längerfristig« ein Wort war, das hier absolut gar nichts bedeutete. Ich schleppte die Koffer hinter Theodora die Treppe hinauf und einen schmalen Korridor entlang bis zu einer Tür, an der Fernostsuite stand. Theodora verwickelte den Schlüssel in einen Kampf mit dem Schlüsselloch, aber nach ein paar Minuten gab die Tür klein bei, und wir betraten unser neues Zuhause.
    Wohl kaum jemand wird die Fernostsuite des Weißen Torso in Schwarz-aus-dem-Meer kennen, aber fast jeder hat schon einmal einen Raum betreten, der sofort seinen Fluchtinstinkt ausgelöst hat, was in etwa auf das Gleiche hinausläuft. Den Hauptteil des Zimmers nahmen ein großes und ein kleines Bett ein. Getrennt wurden sie durch eine niedrige Kommode, die mürrisch dreinzublicken schien. Eine Tür führte ins Bad, und auf dem kleinen Tisch in der Ecke stand eine Metallplatte mit Stecker, auf der man sich vermutlich sein Essen aufwärmen konnte. An der Decke war eine Leuchte in der Form eines leicht verunglückten Sterns, und an der Wand, über dem kleineren Bett, hing ein einsames Gemälde von einem kleinen Mädchen, das einen Hund mit verbundener Pfote hielt. Es war dunkel in dem Zimmer, aber auch als ich die Läden des einzigen Fensters zurückgestoßen hatte, fiel in die Fernostsuite kaum mehr Licht als zuvor.
    » Wir wohnen im Doppelzimmer?«, fragte ich.
    » Immer mit der Ruhe, Snicket«, erwiderte Theodora. » Wir können uns schließlich im Bad umziehen. So, warum schiebst du deinen Koffer nicht unters Bett und gehst ein bisschen spielen oder so? Ich packe solange aus und mache ein Nickerchen. Das hilft mir immer beim Denken, und ich muss mir etwas einfallen lassen, wie wir an die Statue kommen.«
    » Es gibt eine Trosse«, sagte ich, » die vom Leuchtturm bis hinunter zum Haus von Mrs Sallis führt.«
    » Trosse?«
    » Eine Trosse ist ein Kabel«, sagte ich.
    » Das weiß ich.«
    » Ja?« Ich konnte es mir nicht verkneifen. » Ich musste es von einem kleinen Mädchen lernen.«
    Theodora setzte sich mit einem tiefen Seufzer auf das große Bett und fuhr sich mit den Händen durch ihr endloses Haar. » Lass mich entspannen, Snicket«, sagte sie. » Sei pünktlich zum Abendessen wieder hier. Ich denke, wir essen heute später.«
    » Später als was?«
    » Später als sonst.«
    » Wir haben doch noch nie zusammen gegessen.«
    » So kann ich nicht entspannen, Snicket.«
    Unentspannt war ich selbst, also schob ich meinen Koffer unters Bett, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Eine Minute später stand ich wieder auf dem Bürgersteig und sah die leere Straße entlang, beide Hände voller Erdnüsse, die ich in der Hotelhalle hatte mitgehen lassen. Hier draußen vor dem Weißen Torso hatte ich mehr Privatsphäre als in der Fernostsuite. Privatsphäre war mir wichtig, aber ich wusste nicht, womit ich die Zeit bis zum Abendessen füllen sollte, deshalb drehte ich mich um und ging die Häuserzeile entlang bis zu dem Steinbau mit den Säulen, der mir noch am vielversprechendsten aussah.
    Da war ich also, ein Junge von fast dreizehn, der allein die leere Straße einer zerfallenden Stadt entlangging. Ich war dieser junge Mensch, der alte Erdnüsse aß und über einen seltsamen, verstaubten Gegenstand nachgrübelte, der gestohlen oder einfach nur vergessen worden war und entweder einer Familie oder einer anderen gehörte oder deren Feinden oder Freunden. Und davor war ich ein Kind gewesen, das eine unorthodoxe Erziehung genoss, und davor ein Säugling, der sich, wie man mir erzählt, gern im Spiegel betrachtete und seine Zehen in den Mund nahm. Ich war einst dieser Junge und dieses Kind und dieser Säugling, und das Gebäude, vor dem ich stand, war einst ein Rathaus gewesen. Vor mir erstreckte sich meine Zeit als Erwachsener und danach als Skelett und danach als gar nichts mehr außer vielleicht ein paar Bücher in ein paar Regalen.
    Aber im Moment erstreckte sich vor mir erst einmal ein räudiger Rasen mit einer hohen Bronzestatue darauf, die so verwittert von Regen und Alter war, dass ich nicht erkennen konnte, was sie darstellte, auch aus allernächster Nähe nicht. Die Schatten der beiden Eingangssäulen waren zwei verwackelte Striche, und das Gebäude selbst sah aus, als hätte es ein paar Ohrfeigen von einem jähzornigen Riesen

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