Der Fluch der Finca
ich dich liebe und wie sehr ich dich
vermisse“, schluchzte sie leise.
„Es ist gut, meine geliebte Frau. Weine ruhig. Ich werde es ab jetzt ertragen, dich
weinen zu sehen, wenn es gut für dich ist. Wir sehen uns eines Tages wieder, das kann
ich dir versprechen. Für heute aber habe ich dir nur noch etwas zu geben und dann
muss ich wieder gehen.“
„Was ist es?“ Verzweiflung lag in ihrer Stimme und sie hoffte, er würde für lange Zeit
einfach nur dort bleiben, damit sie ihn ansehen konnte. Einfach dort bleiben und nicht
antworten. Mit der Antwort auf ihre Frage würde diese wunderschöne Begegnung zu
Ende sein.
Ihre Verzweiflung musste für Harry spürbar sein, denn er zwang sie sanft aber
bestimmt, seinen Blick zu suchen. Als sie ihm direkt in die Augen blickte, begann er so
zauberhaft zu lächeln, dass sie einfach nicht anders konnte, als ebenfalls zu lächeln. Es
war eine Art Magie, die Harry auf sie ausübte und sie funktionierte ganz wunderbar. Die
Tränen versiegten und die Trauer über den bevorstehenden Abschied schwand.
„Wenn du wissen möchtest, was ich dir zu geben habe, dann gehe in das alte
Gesindehaus, hebe die dritte Bodendiele an und greife in den Hohlraum darunter, dann
wirst du es finden.“
„Dritte Bodendiele“, wiederholte sie verträumt.
„Genau. Und Michelle: Ich freue mich für dich, dass du Keith gefunden hast. Halte ihn
gut fest. Er ist ein guter Mann für dich.“
Das Leuchten verschwand und auch Harry war fort. Verdutzt blinzelnd sah Michelle sich
um und stellte fest, dass sie wieder in der Wirklichkeit angekommen war. Die Welt war
so real wie immer und doch war ihr das gerade Erlebte so präsent, dass auch das real
gewesen sein musste. Die Erinnerung an einen Traum fühlte sich völlig anders an, als
das.
Unter der dritten Diele!
Mit frischem Mut und voller Zuversicht, das Richtige zu tun, ging sie auf die Ruine zu.
Die Tür war geschlossen und mit wildem Wein bewachsen. Sie ließ sich keineswegs so
leicht öffnen, wie Michelle erwartet hatte. In ihrer Vision war diese massive Tür noch so
sanft aufgeschwungen, doch jetzt erwies es sich als echte Herausforderung, sie auch
nur einen Spalt weit zu öffnen. Die Weintriebe waren von der Ziegelmauer über die Tür
gewuchert und hatten sich mit den Trieben, sie aus der anderen Richtung ebenfalls
darüber gewachsen waren, verhakt und verschlungen. Es brauchte einiges an Kraft, um
das Gestrüpp so weit zu lösen, dass endlich Bewegung in die verrosteten Scharniere
kam.
Ein lautes Knarren begleitete die Öffnung der seit Ewigkeiten verschlossenen Tür. Von
drin quoll ein muffiger Geruch aus altem Staub und verrottendem Holz ins Freie. Das
einfallende Licht des schwindenden Tages erhellte das Innere gerade so weit, dass
Michelle ein Durcheinander von losen Brettern und allerlei anderem Unrat sehen
konnte.
Hier drin würde ich mich am Tage verstecken, wenn ich ein Wesen der Nacht wäre,
schoss es ihr durch den Kopf und der Gedanke ließ sie kurz zögern. Doch Harry hätte
sie nicht hier hineingeschickt, wenn Gefahr für sie bestanden hätte, also ging sie weiter
und trat in das alte Gemäuer ein.
Das herumstehende Gerümpel sah aus, als wären es Materialreste, die von einer
Baustelle übrig geblieben waren. Vielleicht hatte man vor Jahren, als die Finca renoviert
wurde, die überschüssigen Bretter und Werkzeuge einfach hier hineingestopft und dann
vergessen.
Der Boden bestand tatsächlich aus Dielenbrettern, doch der Dielenboden begann erst
einige Schritte hinter der Tür. Der vordere Eingangsbereich war mit Steinen gefliest.
Michelle beugte sich hinunter uns zählte die Bretter ab. Das Dritte, von dem Harry
gesprochen hatte, schien im Verhältnis zu den anderen an einem Ende etwas
hochzustehen. Das erste, zaghafte Rütteln daran, bewirkte zunächst einmal gar nichts.
Aber das war auch wenig verwunderlich. Die Ritzen zwischen den Dielen waren mit
Sand und Staub gefüllt und verhinderten, dass man die Bretter ohne Weiteres
gegeneinander verschieben konnte. Wahrscheinlich waren sie ähnlich einem modernen
Laminatboden auch miteinander verbunden. Nachdem sie ein paar Mal fest
aufgestampft und den Dreck damit gelöst hatte, versuchte sie es erneut.
Jetzt ließ sich die Diele endlich anheben. Darunter war der erwartete Hohlraum, der
sich bis unter die benachbarten Bretter erstreckte. Michelle musste sich flach auf den
staubigen Boden legen und ihren ganzen Arm in die Öffnung
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