Der Fluch der Finca
Welt um sie herum ganz
plötzlich zu einer hübschen Farbfotografie erstarrt. Das Gefühl war irritierend, aber nicht
beunruhigend. Es war, als befinde sie sich in einem Traum.
Seltsam, als wäre ich aus der Welt gefallen.
Gerade war sie noch verzagt und voller Sorgen gewesen, doch jetzt durchströmte sie
ein Gefühl der Zuversicht und der Wärme. Das ganze Universum schien ihr zu
signalisieren, dass alles gut werden würde. Es war ein Glücksgefühl, wie sie es noch
nie erlebt hatte. Sie sah sich um und musste dazu den Kopf nicht drehen. Sie
veränderte ihren Standort und musste sich trotzdem nicht bewegen. Es war so, als wäre
sie zwar noch in ihrem Körper, aber trotzdem von ihm unabhängig.
Bin ich tot? Hat mein Herz einfach aufgehört zu schlagen und jetzt bin ich ein Geist?
Selbst dieser Gedanke ängstigte Michelle nicht. Es war merkwürdig und wunderschön.
Wenn das der Tod war, dann begrüßte sie ihn mit offenen Armen.
Ihr Blick wurde jetzt vom Haus weg, in Richtung des kleinen ehemaligen
Gesindehauses etwas abseits vom Haupthaus gelenkt. Es war von wildem Wein
vollkommen zugewachsen und schon seit vielen Jahren nicht mehr genutzt worden.
Natürlich hatte sie auch dort noch nachsehen wollen, doch auf ihrer Prioritätenliste hatte
dieses baufällige Gemäuer ganz hinten angestanden.
Kaum, dass Michelle ihre volle Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte, begann das
Häuschen in hellem Licht zu erstrahlen. Die große, schwere Holztür, schwang mit
Leichtigkeit auf, obwohl auch sie schon vom wilden Wein überwuchert war. Das Innere
des Hauses war hell erleuchtet und aus dem Lichtkegel löste sich eine menschliche
Gestalt, die im Gegenlicht zunächst nur als Schatten zu erkennen war.
Michelles Augen weiteten sich und eine Welle aus Liebe und Dankbarkeit durchflutete
sie, noch bevor sie wirklich erkennen konnte, wer da aus dem Licht auf sie zukam.
„Harry!“
Er war es wirklich. Ihr geliebter Mann, den ihr ein sinnloser Krieg genommen hatte, war
wieder da.
Ja, ich muss wirklich tot sein. Ich bin gestorben und Harry ist gekommen, um mich zu
empfangen. Oh, es ist alles wahr, was man über das Leben nach dem Tode sagt, alles.
Harry blieb in einigen Metern Entfernung stehen und Michelle wollte zu ihm laufen.
Doch ihre Füße bewegten sich nicht von der Stelle. Harry lächelte sie an und hob
beschwichtigend seine Arme.
„Näher heran kannst du nicht. Du irrst dich, denn du bist keineswegs tot.“
„Bin ich nicht?“, fragte sie verwirrt.
„Nein, du bist so lebendig, wie du sein solltest. Deine Zeit ist noch nicht gekommen und
das ist auch gut so.“
Eigentlich hätte Michelle erwartet, dass sie diese Nachricht traurig machen würde, doch
sie stellte fest, dass das nicht der Fall war. Harry freute sich, dass sie am Leben war
und wenn Harry froh war, dann war sie es auch.
„Warum bist du hier Harry? Warum jetzt?“
Er überlegte kurz und sah dabei etwas verlegen aus. Dann sprach er wieder.
„Du bist in einer Situation, in der du ohne mich nicht wärst. Ich habe schon einmal in
dein Leben eingegriffen und das Ergebnis war, dass du hierher kamst und es mit dem
Bösen zu tun bekommen hast. Ich bin hier, weil ich für meinen Fehler
Wiedergutmachung leisten muss.“
Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, nein, das ist nicht wahr, Harry. Du bist an gar nichts Schuld. Es war ganz allein
meine Idee, Juanita nach der Finca zu fragen und her zu kommen. Ich tat es aus freien
Stücken.“
„Und wärest du auch dann auf diese Idee gekommen, wenn ich dich nicht mit
Nachdruck an meinen Brief erinnert hätte?“
Da Michelle darauf nichts zu erwidern wusste, beantwortete Harry seine Frage selbst:
„Du wärest nie auf die Idee gekommen, dass du aus deiner gewohnten Umgebung fort
musst. Ich hatte es für notwendig gehalten, weil ich dich so lange Zeit leiden sehen
musste. Wie egoistisch von mir, dir dieses Leid vorschnell nehmen zu wollen. Früher
oder später hättest du es aus eigener Kraft geschafft, aber ich konnte es nicht
abwarten. Selbstverständlich bin ich schuld an deiner Lage.“
Das war so typisch Harry. Immer hatte er alle Schuld auf sich genommen, wenn etwas
schief gelaufen war. Nach jedem Streit war er es gewesen, der sich entschuldigte und
auch sonst übernahm er stets für alles die Verantwortung.
Jetzt rannen Michelle doch Tränen über das Gesicht, doch es waren Tränen der
Rührung, nicht der Trauer.
„Oh Harry, du ahnst überhaupt nicht, wie sehr
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