Der Fluch der Hebamme
würde.
Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, als sie Schritte hörte, die klappernden Holzpantinen eines Knechtes oder Mönches. Die Tür wurde aufgeschlossen, jemand befahl: »Lass uns allein!«, und eine unterwürfige Stimme sagte: »Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden!«
Sprachlos vor Staunen und Angst zugleich sank Marthe auf die Knie, als sie erkannte, wer ihr Besucher war. Nun war sie nicht nur in Gottes Hand, sondern auch in der Hand seines Stellvertreters in Meißen, des Propstes Dittrich von Kittlitz.
Marthe konnte nicht am Gesicht des Dompropstes ablesen, was er vorhatte, denn sie musste den Blick streng gesenkt halten. Zu viel Schlimmes war in den letzten Stunden auf sie eingestürzt, als dass sie jetzt noch einen Gedanken fassen konnte. Aber warum kam er zu ihr, statt sie vor sich befehlen zu lassen?
Dittrich von Kittlitz war der Mann, der vor Jahren das Verhör geleitet hatte, um festzustellen, ob sie heidnische Bräuche und Schadenszauber betrieb. Damals kannte sie seinen Namen noch nicht. Zunächst hatte er wirklich den Willen zu einer ehrlichen Prüfung dieser Anklage gezeigt. Doch dann stimmte er zu, die Wahrheit durch die Probe auf dem kalten Wasser herauszufinden. Marthe hatte heute noch jenen Satz im Ohr, mit dem er sie dem sicheren Tod ausliefern wollte. Und eines stand fest: Diesen Tag hatte er gewiss ebenso wenig vergessen wie sein Opfer. Wollte er nun nachholen, was damals nicht gelungen war?
Nach einem Moment wirkungsvollen Schweigens sagte er: »Es ist eine grässliche Sünde, jemanden zu verfluchen, für die du büßen und aufrichtige Reue zeigen wirst, meine Tochter. Doch wir sind uns zweifellos darüber einig, dass du über keinerlei Fähigkeiten verfügst, jemanden zu verhexen. Das hat die Wasserprobe eindeutig erwiesen. Also: Weshalb fürchtet sich der neue Markgraf dermaßen vor deinen Worten, obwohl er doch keinerlei Furcht zeigte, einen Schatz vom Altar eines Klosters zu stehlen?«
Vorsichtig sah Marthe hoch zu dem Mann, der vor ihr stand und auf sie herabsah.
»Ihr habt recht«, gestand sie. »Ich kann niemanden verzaubern oder ihm mit Worten oder Flüchen Schaden zufügen.«
»Wie ich sagte. Also hilf mir, dieses merkwürdige Verhalten des jungen Fürsten zu verstehen, und du wirst bei mir vor ihm sicher sein. Als … Gast. Ohne die Erlaubnis, zu gehen oder jemandem Nachricht zu geben, aber in Sicherheit. Und auch deutlich bequemer untergebracht als in dem Verlies, aus dem ich dich holen ließ.« Mit flüchtiger Geste wies er auf das aufgeschüttete Stroh und die Kerze.
Schlagartig begriff Marthe. Sie war sein Faustpfand gegen Albrecht. Natürlich würde sofort die Runde machen, dass sie ein zweites Mal auf unerklärliche Weise aus einem Kerker verschwunden war. Das würde Albrechts Furcht vor ihrem Fluch noch verstärken. Und solange sie Dittrich etwas bieten konnte, das er gegen Albrecht verwenden konnte, würde er sie am Leben lassen.
Nur
so lange. Früher oder später würde er sich ihrer entledigen. Aber vorerst war sie vor Albrechts Mordgesellen sicher.
Schon flogen ihre Gedanken wieder zu Lukas. Was würde aus ihm werden? Würde er wie damals Christian denken, sie sei tot und irgendwo heimlich begraben? Lebte er überhaupt noch?
Auf einmal schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie konnte nichts tun, um sie aufzuhalten, auch wenn sie sich diese Schwäche vor anderen nicht erlauben wollte.
»Ich tat es nur … um meinen Mann zu retten … Ich wusste mir keinen anderen Rat«, schluchzte sie. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie wieder sprechen konnte.
»Das habe ich schon verstanden«, meinte der Propst ungeduldig. »Aber warum diese Wirkung? Was ist es, das Albrecht an dir fürchtet? Es geht das Gerücht, du hättest ihm vor Jahren gewisse Heiltränke gebraut. Wozu?«
Marthe wischte sich mit dem Ärmel des Unterkleides die Tränen ab und versuchte, sich zu sammeln. Dittrich wollte Antworten – und sie hatte keinen Grund, auf Albrecht irgendwelche Rücksichten zu nehmen.
»Alpträume … Er hatte Alpträume … von fürchterlichen Dämonen, die ihn verfolgten … Wände, die sich in schreckliche Gesichter verwandelten. Ich erkannte, das waren die Folgen von Bilsenkraut. Er hatte zu viel davon genommen. Also mischte ich ihm Schlaftränke, damit er wenigstens nachts von den Schreckensgespinsten befreit wurde. Er hatte es befohlen, aber er hat mir damals schon nicht getraut. Ich musste alles selbst vorkosten. Und er hat mir verboten, jemandem
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