Der Fluch der Hebamme
sollten die Tore vor den eigenen Leuten geschlossen werden? Wer ritt da gegen Freiberg?
»Bleibt ruhig und geht nach Hause!«, versuchte Marthe, die Frauen zu beschwichtigen und die aufkommende Kopflosigkeit der Menge aufzulösen. »Das ist eine Vorsichtsmaßnahme. Falls das nicht die Unsrigen sind, überlasst die Verteidigung der Stadt den Wachen! Bringt die Kinder in eure Häuser und holt so viel Wasser aus den Brunnen, wie ihr könnt!«
Ottos Erstgeborener führte gewiss nicht genug Leute mit sich, um in die Stadt einzufallen, solange die Tore geschlossen blieben und verteidigt wurden. Falls Albrecht allerdings Einlass erzwang, zeigte sich besser keiner der Bewohner in den Gassen.
Doch sollte sich das Feuer bis hierher durchfressen, drohte die gesamte Stadt in Flammen aufzugehen.
Marthe hielt Ausschau nach einem der Ratsherren oder sonst jemandem, der ihr helfen konnte, die aufgebrachte Menschenmenge zu beruhigen. Fast gleichzeitig entdeckte sie Jonas und Anselm, den Bürgermeister. Marthe riss sich zusammen, um ruhig und entschlossen zu wirken, und arbeitete sich zu den beiden durch das Gewühl vor.
»Was geht hier vor sich?«, plusterte sich der Gewandschneider gerade auf. »Wieso sagt mir niemand Bescheid?«
Ganz offensichtlich wusste er nicht, was er tun sollte, und war hin- und hergerissen zwischen Neugierde und dem Wunsch, sich
schleunigst in Sicherheit zu bringen.
Marthe tauschte einen kurzen Blick mit Jonas, den sie auf diese Weise bat, bei ihr zu bleiben, und drehte sich zu dem dürren Bürgermeister um.
»Meister Anselm, bitte sorgt dafür, dass die Menschen in ihre Häuser gehen, sonst treten sie sich hier in dem Gewühl noch zu Tode«, sagte sie höflich, aber entschieden. »Und es müssen Brandwachen aufgestellt werden.«
Der Gewandschneider griff diesen Vorschlag erleichtert auf und wandte sich mit ausgebreiteten Armen der rasch anwachsenden Menge zu. Inzwischen waren auch etliche Männer gekommen: Knechte mit Äxten oder anderem Werkzeug, Stadtbürger, die zwar zu nächtlichen Wachen verpflichtet, aber im Umgang mit Waffen mehr oder weniger ungeübt waren.
Marthe begriff, dass Anselm umgerannt werden würde, wenn nicht ganz schnell Hilfe kam. Jonas erkannte ebenso, dass die Lage hier vor dem Erlwinschen Tor gefährlich wurde, zwängte sich neben den dürren Schneider und rief mit lauter Stimme, was zu tun war. Die Stadtbewohner aus den vorderen Reihen wollten ihm gehorchen, doch von hinten drückten und schoben immer mehr Menschen, so dass es unmöglich schien, die Menge aufzulösen.
Jonas pfiff durchdringend auf zwei Fingern. Für einen Augenblick verharrte die Menge, und der Schmied nutzte den Moment der Stille, um seine Anweisungen zu wiederholen, die er als die des Bürgermeisters ausgab.
Augenblicke später zwängten sich Jonas’ Söhne durch den Auflauf, um ihren Vater zu unterstützen. Auch Friedrich, der alte Ratsherr und Fuhrmann, tauchte auf und half.
Marthe ihrerseits redete beruhigend auf die Frauen ein, die in ihrer Nähe schrien und drängelten. Hatte nicht Lukas selbst gesagt, dies hier sei eine Sache, die die bewaffneten Kämpfer ausfechten mussten?
Dabei wäre sie am liebsten den Turm hochgelaufen, um zu sehen, ob die nahende Reiterschar von Lukas angeführt wurde. Doch dort oben hatte sie als Frau nichts verloren und würde nur im Wege sein.
Erst langsam, dann zunehmend schneller löste sich die Menschenmenge auf. Vor allem die Furcht vor einem Stadtbrand trieb die Leute in ihre Häuser, um Eimer und alle verfügbaren sonstigen Gefäße mit Löschwasser zu füllen, die Kinder und ihre wichtigste Habe an sich zu nehmen.
Bald standen die Ratsherren und Marthe fast allein auf dem Platz vor dem Tor. Jonas sah, dass Marthe plötzlich wankte und kreidebleich wurde. Besorgt fragte er sie, ob es ihr nicht gutginge.
Doch seine Worte erreichten sie nicht. Mit einem Mal hatte sie ein Schreckensbild vor Augen, das sich einfach nicht verjagen lassen wollte: Albrecht an der Spitze der Reiterschar, und in der Rechten hielt er Lukas’ abgeschlagenen Kopf an den Haaren gepackt.
Qualvoll schrie sie auf. Dass ihr die Tränen liefen vor Angst und Entsetzen, bemerkte sie nicht einmal.
Sie wankte, jemand stützte sie behutsam am Arm: Jonas, der befürchtete, sie könnte umfallen.
Dann endlich drang sein erleichterter Ruf zu ihr durch. »Es sind die Unsrigen! Sie öffnen das Tor.«
Zusammen mit den letzten Gaffern, die immer noch in der Erlwinschen Gasse standen, wich sie
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