Der Fluch der Makaá
aus Augen, Mund und Ohren. Und überall die glitzernden Tropfen der feuchten Höhenluft, die auch unsere Haut mit einem feinen Film winziger Diamanten überzog.
Anfangs war die Wolkendecke dicht und undurchsichtig, doch dann begann sie aufzureißen, und als der Abend hereinbrach ergoss sich das blaue Licht eines klaren Himmels über alles und wir genossen eine atemberaubende Aussicht auf die fremdartige Landschaft, von den Hängen des Tepuys bis zu den endlosen Weiten Venezuelas.
Bevor die Nacht ihren schwarzen Schatten über den Tafelberg warf, erhaschten wir noch einen kurzen Blick auf das Hochplateau des Roraima Tepuy, dessen Ausmaß unsere Erwartungen um ein Vielfaches übertraf. Er war längst nicht so flach wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern zerklüftet und teilweise sehr üppig bewachsen mit leuchtendem Grün. An verschiedenen Stellen ragten bizarre Felsnadeln in den dunkelblauen Himmel, wie Leitern, die zu noch höheren, noch unwirklicheren Gipfellagen führten.
„Es ist riesig!“, rief ich überwältigt. „Aber was sollen wir hier nur finden?“
Bislang hatten wir keinen Hinweis erhalten, was unsere nächste Aufgabe sein würde. Allein den Berg zu besteigen, das war bestimmt nicht die letzte Hürde gewesen.
„Das Beste wird sein, wir teilen uns morgen auf“, schlug Robert vor. „Oliver und Mateo suchen die rechte Hälfte ab, und wir beide, Mel, wir suchen in der Linken – was auch immer.“
Dann krochen wir todmüde unter einen Felsvorsprung und begaben uns zur Ruhe.
„Trotz aller Strapazen“, murmelte Mateo schläfrig, „wir liegen gut in der Zeit.“
Das waren die letzten Worte, die wir wahrnahmen, bevor uns ein tiefer Schlaf packte und uns weiter fort trug als es Züge, Schiffe oder Flugzeuge je vermocht hätten. Ein Traum nahm uns mit auf eine seltsame Reise: Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an die grünen, blassen Vorhänge, die wie Spinnweben den Blick verschleierten bis wir schließlich einen Ort vollkommener Stille und Finsternis erreichten.
Eine Weile verharrten wir dort, schwerelos wie Geister, die Anwesenheit der anderen nur erahnend – so wie vor einigen Tagen schon einmal. Doch diesmal wurde das rote Licht, das plötzlich erschien, von einer Stimme begleitet. Aber statt zu donnern und zu tönen, war sie diesmal ganz sanft. Und das war, was in der typischen, etwas theatralisch klingenden Reimung gesprochen wurde:
Des weichen Kernes harte Schale
Weist euch die letzten Schritte
zu den Hallen, in unsere Mitte.
Nicht auf dem Berg, nicht in dem Tale –
Im Urgesteine dieser Welt
Löst sich das Rätsel auf!
Doch wie ist’s um die Zeit bestellt?
Was sagt der runde Mondenlauf?
Ob Windhauch oder Sturm,
beeilet euch –
der frühe Vogel fängt den Wurm.
Tag 13 nach dem Absturz
D er Morgen brach früh und mit bitterer Kälte über uns herein. Es kostete Einiges an Überwindung aus den warmen Schlafsäcken zu kriechen und dem Morgentau zu trotzen. Ich rieb mir den Kopf, in meinen Schläfen pochte es. Die Jungs schliefen noch, oder taten zumindest so. Irgendetwas hatte ich geträumt… nur was? Ich streckte meine Glieder und machte eine Art Frühsport, auch um die Kälte zu vertreiben.
Nach ein paar Minuten rafften sich auch Robert und Mateo auf. Sie erwachten mit einem nachdenklichen Blick und eine Frage brannte auf unseren Lippen. Doch Oli, der sich als letzter erhob, sprach die entscheidende Frage schließlich aus: „Hab nur ich das geträumt, oder ihr auch?“
„Die Makaá haben wieder zu uns gesprochen“, murmelte Mateo und versuchte sich zu erinnern was es war. Es ist gar nicht so leicht sich an Träume zu erinnern. Sie entschwinden einem, sobald man glaubt sie festhalten zu können. Doch wir mussten uns erinnern. So viel hing davon ab! Dieser Traum durfte nicht entwischen! Gemeinsam kramten wir die Wortfetzen aus unserem Unterbewusstsein hervor – Robert machte zu den Bruchstücken Notizen auf seinem Skizzenblock, in den er nun schon lange nichts mehr gezeichnet hatte – aber wir waren schließlich nur wenig klüger als zuvor.
„Des weichen Kernes harte Schale – was mag das wohl sein?“, fragte Oliver grübelnd, während wir ein karges Frühstück zu uns nahmen.
„Das ist in der Tat seltsam“, gab Robert zu und betrachtete stirnrunzelnd seine Aufzeichnungen. „Vor allem, weil es in der Natur meistens andersherum ist: Weiche Schale und harter Kern… Zumindest, wenn ich an Obst denke…“
„Denk nicht an Obst!“, wehrte ich lachend ab.
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