Der Fluch der Makaá
Jahrhunderten wird das Delta von den Warao-Indianern bewohnt. Warao heißt soviel wie Bootsleute. Selbst heute noch wohnen die Indianer in den ursprünglichen Pfahldörfern und leben vom Fischfang und von der Jagd.“
„Kennst du dich mit ihren Bräuchen aus? Mit Sitten und Symbolen?“, hakte mein Vater interessiert nach. Carlos schien eine Weile zu überlegen. „Nun ja, die Waraos verstehen sich auf Naturmedizin. Sie stellen Öle her, die Wunden heilen und Kranke gesund machen. Wenn sie Symbole haben, dann nur welche aus der Natur. Außerdem sind die Orinoco-Indianer sehr geschickte Handwerker. Sie flechten Körbe und machen Schnitzereien, mittlerweile nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch für den Tourismus.“
„Ah ja“, sagte mein Vater und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihn die Antwort nicht sonderlich zufrieden stellte. Allmählich beschlich mich ein Verdacht, den ich jedoch nicht wagte, laut auszusprechen. Waren wir vielleicht doch nicht nur zum Vergnügen hier?
Carlos schwenkte sein Flugzeug in einer weit ausholenden Rechtskurve in Richtung Südwesten. Wir folgten dem breiten, blauen Band des Orinoco, bis wir ein Stück Zivilisation erreichten. Unter uns tat sich die Ciudad Guayana auf: das Wirtschafts- und Handelszentrum des Staates Bolívars. Das war das Schöne am Fliegen: Die Luft kennt keine Grenzen.
Carlos erzählte in spannenden Geschichten wie vor Hunderten von Jahren Piraten diesen Ort oft angegriffen hatten. Vom Atlantik aus waren sie über den Orinoco direkt in das Herz der Stadt gelangt und hatten deren Bewohner bis aufs letzte Hemd ausgeplündert.
Auch wenn die Ciudad Guayana mit 600 000 Einwohnern sicherlich eine große Stadt in Venezuela ist, mit der Cessna hatten wir sie rasch überflogen und steuerten gen Süden. Ein Nebenarm des Orinoco wies uns die Richtung, bis er sich in einen riesigen, tiefblauen See ergoss, nur um sich einige Zeit später wieder zu einem Fluss zu verjüngen.
Das Landschaftsbild hatte sich einmal mehr geändert: eine endlose Ebene hatte sich unter uns wie ein Teppich in schillernden Grüntönen ausgerollt und erstreckte sich bis zum Horizont. Hier und da ragten riesige Plateaus aus der Ebene, die so zufällig und überraschend auftauchten, dass man vermuten konnte, die Welt hätte Schluckauf gehabt. Es bestand kein Zweifel, es mussten die sagenumwobenen Tafelberge sein! In meiner Broschüre hatte ich darüber gelesen: es hieß, auf den Plateaus gebe es noch Pflanzen und Tiere aus der Urzeit, die nur noch an diesem Ort vorkommen würden und sonst nirgendwo auf der Welt. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diese grandiosen Riesen zu sehen. Zu gerne hätte ich sie von Nahem betrachtet.
„Können wir auf den Tafelbergen landen?“, erkundigte ich mich bei Carlos. „Nur wenn wir abstürzen“, antwortete er und grinste mich schief an.
„Schade“, murmelte ich.
„Es gibt aber Expeditionen zu den Plateaus“, informierte uns Carlos. „Wenn man schwindelfrei und noch dazu nicht zimperlich ist, kann man einige von ihnen innerhalb weniger Tage besteigen.“
„Das überlegen wir uns noch“, entgegnete meine Mutter, als sie meinen bittenden Blick auffing.
Nach etwa zwei Stunden Flugzeit kündigte Carlos das Highlight des Rundfluges an: „Wir kommen nun in das Gebiet der Gran Sabana.“
„Gibt es hier auch Indianer?“, erkundigte sich mein Vater. „Ach Konrad“, beschwichtigte meine Mutter. „Du und deine Indianer… Nun lass es doch gut sein.“
„Wenn es mich aber interessiert?“, entgegnete mein Vater gelassen.
Carlos grinste. „Es gibt natürlich auch hier Indianer. Ganz in der Nähe, in Canaima, leben die Kamarakoto-Indianer, ein wenig weiter östlich die Pémones. Aber fragen Sie mich bitte nicht nach deren Symbolen oder Bräuchen, ich kenne sie nicht. Auch sind diese Indianer schon wesentlich fortschrittlicher als die am Orinoco. Ein Großteil der Kinder besucht Schulen und lernt Spanisch und Geschichte.“
„In Ordnung. Vielen Dank“, sagte mein Vater leise. Er hatte sich wesentlich mehr Auskunft erhofft. „De nada – schon gut“, meinte Carlos achselzuckend. „Wieso interessierst du dich überhaupt so dafür, Konrad?“
Mein Vater wählte seine Worte sehr genau, und sprach daher etwas gedehnt. „Ich bin vor kurzem auf etwas gestoßen – einen Abdruck. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber ich glaube, es ist indianischen Ursprungs.“
„Ein Hinweis auf den verschwunden Matisse?“, fragte Carlos mit
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