Der Fluch der Maorifrau
Frage hatte sie sich lange nicht mehr gestellt. Und sie konnte sie jetzt nicht beantworten. In ihrem Kopf war nur noch Platz für Emma und das Rätsel um diesen Holden.
Sophies Blick fiel auf die Aufzeichnungen, die auf der anderen Bettseite lagen. Wie magisch angezogen, griff sie danach. Obwohl sie sich mit aller Macht dagegen sträubte, gab es noch etwas, das sie brennend interessierte: Wie es Anna wohl in jener Nacht weiter ergangen war?
Dunedin/Otago, Januar bis Februar 1863
Anna atmete tief durch und zwang sich zu beobachten, was zwischen Christian und der Maorifrau vorging.
Hine deutete nun wieder auf ihren Bauch, streichelte ihn und umfasste ihn mit beiden Händen. Dabei sprach sie in einem fremden Singsang auf ihren Geliebten ein und trat einen Schritt auf ihn zu. Er jedoch machte abwehrende Gesten. Hine reckte die Hände und rief in seiner und Annas Sprache: »Vater! Mutter! Kind!« Er aber schubste sie noch einmal von sich. Wieder landete Hine der Länge nach im Sand. Statt ihr aufzuhelfen, näherte er sich ihr bedrohlich und rammte ihr ohne Vorwarnung einen Stiefel in den Bauch. Anna konnte gerade noch rechtzeitig die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut zu schreien, denn was sie da mit ansehen musste, war mehr, als sie ertragen konnte. Christian stand nun breitbeinig über der sich im Sand krümmenden Frau und versetzte ihr noch einen brutalen Tritt in den Bauch. Hine wimmerte vor Schmerzen wie ein verletztes Tier.
Anna wurde übel vor Abscheu und Angst, aber sie schaffte es, den Würgereiz zu unterdrücken.
Sie wandte den Blick ab und kroch rückwärts, bis sie außer Sichtweite der beiden war. Dort erhob sie sich und rannte um ihr Leben, bis sie endlich den Weg erreicht hatte, der zurück in die Siedlung führte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Mit den Stiefeletten in der Hand lief sie, bis sie die ersten Häuser erreichte. Spitze Steine schnitten Wunden in ihre Füße, aber Anna war nur von dem einen Wunsch getrieben: vor ihm im Haus anzukommen.
Einen Moment lang befürchtete sie, in die falsche Richtung gerannt zu sein, doch dann erkannte sie ihre Hütte. Mit letzter Kraft schaffte sie es die schmale Stiege in den Schlafraum hinauf. Dort riss sie sich keuchend das Kleid vom Leib und ließ die Stiefel unter den Schemel fallen. Erst als sie sich die Decke bis zur Nasenspitze gezogen hatte, holten sie die Bilder dessen, was sie eben erlebt hatte, mit Macht ein. Ihr wurde eiskalt, und sie begann zu zittern. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Was hat das alles zu bedeuten, fragte sie sich, was? Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher drängte sich ihr die Antwort auf: Christian hatte hier im Haus mit Hine wie Mann und Frau gelebt, aber jetzt, wo seine Ehefrau eingetroffen war, da hatte er keine Verwendung mehr für die Maori. Und schon gar nicht für ihr Kind. Er wollte sie loswerden. Sie und das Ungeborene! Wenn es sein musste, mit roher Gewalt.
Anna empfand grenzenlose Enttäuschung und Verachtung für diesen Mann. Der Gedanke, das Bett mit ihm teilen zu müssen, wurde ihr noch unerträglicher. Kalte Schauer durchfuhren ihren Körper. Niemals mehr würde sie zulassen, dass er sich auf sie wälzte! Es bereitete ihr ohnehin nichts als Qual, aber nun würde noch dazu für immer dieses Bild zwischen ihnen stehen: ein wehrloses Mädchen, das sich am Boden unter seinen Stiefeltritten krümmte. Nein, niemals mehr würde sie sich ihm hingeben.
Da hörte sie seine schweren Schritte auf der Stiege. Rasch drehte sie sich zur Seite und schloss die Augen. Sie nahm wahr, wie er sich ächzend entkleidete und ins Bett kroch. Wenn er bloß mein Herz nicht klopfen hört!, dachte Anna. Sie wagte erst wieder tiefer zu atmen, als sie sein Schnarchen vernahm, und rückte so weit wie möglich von ihm ab. Allein sein Geruch erregte erneut Übelkeit in ihr. In diesem Augenblick spürte sie plötzlich unter sich den Sand, den sie vom Strand mit in das Bett getragen hatte. Sie lauschte. Er schlief offenbar tief und fest.
Vorsichtig stand sie auf und säuberte ihre Betthälfte von den verräterischen Sandkörnern. Er durfte niemals erfahren, dass sie ihn dort draußen beobachtet hatte. Ihre Füße schmerzten. Meine Fußsohlen interessieren ihn sowieso nicht, beruhigte Anna sich. Dabei wusste sie nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte: vor seiner Strafe, sollte er es jemals herausbekommen, was sie mit angesehen hatte, oder vor dem Leben mit diesem grausamen Mann.
Als sie wieder im Bett
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