Der Fluch der Maorifrau
Entenkeule Übelkeit in Sophie aus. Obwohl sie seit dem Vortag keinen Bissen angerührt hatte, hob sie gar nicht erst den Aludeckel über dem Teller an, sondern schob das Tablett möglichst weit von sich fort. Ihr Nachbar, ein älterer Herr, dem Äußeren nach zu urteilen ein Thailänder, sagte besorgt: »Solly, Sie müssen essen.«
»Nein!«, erwiderte Sophie knapp und bot ihm ihre Portion an. »Ich habe sie nicht angerührt«, fügte sie hinzu und nahm einen kräftigen Schluck von dem Rotwein.
Da sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte, sehnte sie sich danach, endlich ein wenig zu schlafen. In der Hoffnung, der schwere Rote würde ihr die Angst nehmen und sie schläfrig machen, trank sie das Glas hastig leer und schenkte sich gleich ein zweites ein. Der Schlaf des Vergessens! Das war es, wonach sie sich sehnte. Zur Sicherheit schluckte Sophie zusätzlich ein leichtes Beruhigungsmittel. Das hatte sie in der Handtasche, seit sie mit ihrer Klasse einen Kunstwettbewerb gewonnen und im Rathaus eine Rede vor den Honoratioren hatte halten müssen. Sie seufzte bei der Erinnerung an diesen unvergesslichen Abend. Ihre Mutter hatte in der ersten Reihe gesessen und wäre vor lauter Stolz auf ihre Tochter beinahe geplatzt.
»Solly, blauchen Sie Hilfe?«, hörte sie nun ihren Nachbarn fragen, aber sie schüttelte nur abwehrend den Kopf und schloss die Augen, bemüht, zur Ruhe zu kommen. Aber die Gedanken tobten wie ein Wirbelsturm durch ihr Hirn. Kein Gedanke ließ sich fassen. Und über allem hing diese lähmende Furcht.
Ich bin jetzt ganz allein, dachte Sophie, mit vierunddreißig Jahren Vollwaise. Diese Gewissheit schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte eine schmerzhafte Sehnsucht nach ihrem Vater und Trauer darüber, dass er ihr nicht beistehen konnte. Sie sah ihn wieder vor sich in seinem Krankenbett, an dem sie bis zu seinem letzten Atemzug gewacht hatte, bis der Krebs ihn endgültig besiegte. Lag das wirklich schon zwei Jahre zurück? Seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht vermisst hatte.
Emma hatte sich nach dem Tod ihres Mannes völlig verändert. Sie lebte fortan in einer düsteren Gedankenwelt, zu der sie niemandem Zutritt gewährte - nicht einmal ihrer Tochter. Von einem Tag auf den anderen hatte sie ihre Stelle als Journalistin aufgegeben und nie wieder eine Reisereportage geschrieben. Alle hatten sich Sorgen um sie gemacht, aber keiner war mehr zu ihr durchgedrungen. »Depressionen«, hatte der Arzt diagnostiziert, eine Erklärung, die Sophie nie einleuchten wollte. Emma hatte die Medikamente, die er ihr verschrieben hatte, niemals angerührt. Sophie hatte Emma schließlich vorgeschlagen, zu ihr zu ziehen, doch auch der Wohnungswechsel hatte den seelischen Zustand ihrer Mutter nicht verbessert.
Erst seit Emma eine seltsame Frau konsultierte - eine Heilerin, wie Emma ehrfurchtsvoll behauptet hatte -, lebte sie schlagartig wieder auf. Einmal wöchentlich hatte sie diese Frau schließlich aufgesucht. Sophie hatte ihrer Mutter mehrfach angeboten, sie zu begleiten, weil ihr das nicht ganz geheuer war. Emma hatte das allerdings stets vehement abgelehnt. Auf der regenbogenfarbenen Visitenkarte der Dame hatte nichts von einer Ausbildung gestanden. Als »Lebensberaterin« präsentierte sie sich dort, und das war Sophie entschieden zu schwammig, aber Emma hatte auf ihre Heilerin nichts kommen lassen.
Dann plötzlich hatte ihre Mutter alle mit der Nachricht überrascht, dass sie für drei Monate nach Neuseeland reisen werde. Sie war wie in Trance gewesen, als sie ihrer Tochter davon erzählt hatte. Sophie hatte das Ganze für eine verrückte Idee gehalten.
»Hat deine Lebensberaterin dir diese Reise verordnet?«, hörte sie sich noch ironisch fragen. Und sie erinnerte sich noch genau an das entrückte, geheimnisvolle Lächeln ihrer Mutter, als wäre es gestern gewesen.
Sophie hatte Emma immer wieder mit der Frage bedrängt, warum sie ausgerechnet nach Neuseeland reisen wolle. Doch Emma hatte stets nur geantwortet: »Es muss sein. Du wirst es eines Tages verstehen.« Sophie hatte schließlich aufgehört, Fragen zu stellen. Es zählte doch schließlich nur, dass es ihrer Mutter endlich wieder besser ging. Und danach hatte es in der Tat ausgesehen. »Weihnachten bin ich zurück«, hatte Emma ihrer Tochter noch versprochen. »Dann bereiten wir deine Hochzeit vor.«
Die Hochzeit! Die war plötzlich unendlich weit weg - genau wie Jan. Mit jeder Meile, die Sophie sich von ihrem Zuhause entfernte,
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