Der Fluch der Maorifrau
entschwand er zunehmend aus ihren Gedanken. Sophie musste sich regelrecht dazu zwingen, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Dabei meldete sich sofort ihr schlechtes Gewissen, hatte er doch wirklich alles getan, was ein Mann nur tun konnte, wenn seine zukünftige Frau vom Tod der geliebten Mutter erfuhr. Oder etwa nicht? Plötzlich überfiel Sophie der Gedanke, dass Jan sie eigentlich hätte begleiten sollen. Schließlich war seine Kanzlei zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen. Andererseits ... War er nicht gewöhnt, dass sie alles allein regelte? Und schließlich brauchte auch er dringend Erholung von seinem anstrengenden Job. Aber trotzdem ... Sophie starrte nachdenklich aus dem Fenster und zwang sich, tiefer zu atmen.
Und es wirkte, allmählich entspannte sie sich. Statt wie ein Sturm durch ihr Inneres zu fegen, flossen die Gedanken nun wie ein ruhiger Fluss dahin. Sie fühlte sich ein wenig schläfrig, und statt der eisigen Kälte in ihrem Körper breitete sich eine wohlige Wärme in ihr aus.
Bilder ihrer Kindheit zogen an ihr vorüber wie ein Film: Das Haus in Hamburg mit dem großen Garten, in dem sie ihre frühste Kindheit verbracht hatte, der Umzug der Familie nach London, das Internat in Oxford, die vielen Länder, in denen die Eltern gelebt hatten. Sophie seufzte. Wenn sie damals geahnt hätte, wie wenig Zeit ihr noch mit ihren Eltern bleiben sollte, wäre sie vielleicht doch mit nach Afrika und nach Paris gegangen, wie es der diplomatische Dienst von ihrem Vater, Klaas de Jong, verlangt hatte. Sie aber hatte es vorgezogen, im englischen Internat zu bleiben und nicht erneut den Wohnsitz zu wechseln, um nicht den Freundeskreis zu verlieren.
Ihr Vater! Sie sah ihn vor sich: lachend, scherzend, immer gut gelaunt. Sophie war ein ausgesprochenes Vaterkind gewesen. Sie hatte besonders seinen Witz geliebt. Allein mit seinem Akzent, mit dem er als gebürtiger Holländer deutsch gesprochen hatte, hatte er sie immer wieder zum Lachen gebracht. Natürlich hatte Sophie auch an ihrer Mutter gehangen, aber Emma hatte sich stets wie eine Glucke um sie gesorgt, sie oft wie ein Kleinkind behandelt, ja, sie hätte ihre Tochter am liebsten in Watte gepackt. Das war Sophie manchmal zu viel geworden. Ihr Vater war im Vergleich herrlich unbekümmert gewesen.
Merkwürdig, dachte Sophie, von der Art her schlage ich eher nach ihr. Diese Unruhe, diese Rastlosigkeit - genau wie bei Emma. Schon als Kind hatte Sophie diese Unruhe in sich gespürt. In den Ferien hatte sie stets ihre Eltern besucht. Sie war jedes Mal unglaublich aufgeregt gewesen bei dem Gedanken, in ein fernes Land zu reisen, aber es war jedes Mal wieder eine herbe Enttäuschung geworden. Nirgendwo auf der Welt hatte sie das Gefühl gehabt, zu Hause zu sein. Weder im Internat noch in Hamburg, weder in Kapstadt noch in Paris. Und dieses Gefühl verfolgte sie bis heute. Selbst der Gedanke, den Rest ihres Lebens mit Jan von Innering zu verbringen, vermittelte ihr nicht die Geborgenheit, die sie sich von der Entscheidung, den erfolgreichen Anwalt zu heiraten, erhofft hatte.
Erneut wurde Sophie schmerzhaft bewusst, dass sie jetzt völlig allein auf dieser Welt war. Sie besaß keine nahen oder engen Verwandten mehr. Emma und Klaas hatten ihre Eltern früh verloren. Emma hatte immer erzählt, ihr Vater sei im Krieg in Frankreich gefallen und ihre Mutter kurz darauf an gebrochenem Herzen gestorben. Sophie merkte, wie die Müdigkeit Besitz von ihr ergriff. Sie wollte unbedingt mit der Erinnerung an den Mann einschlafen, den sie heiraten würde, aber Jans Gesicht blieb schemenhaft.
Dunedin, Neuseeland, 26. Dezember 2007
Nach einem anstrengenden achtstündigen Zwischenstopp in Bangkok, den Sophie völlig erschöpft, aber hellwach, auf den harten Bänken im Abflugterminal verbracht hatte, war sie pünktlich um zehn Uhr fünfzig Ortszeit auf dem International Airport in Auckland gelandet, wo sie problemlos die Anschlussmaschine erreicht hatte, die sie von der Westküste der Nordinsel zur Ostküste der Südinsel Neuseelands bringen sollte.
Sophie starrte den ganzen Flug über aus dem Fenster, um sich von dem Gedanken abzulenken, dass ihre Mutter sie nie wieder vom Flughafen abholen würde wie so oft in ihrer Jugend. Die übermächtige Angst vor dem, was sie erwartete, war zurückgekehrt und mit ihr der Vorsatz, das hier schnellstens hinter sich zu bringen und rasch nach Hamburg zurückzukehren. Dabei musste sie immer wieder an den Traum denken, der sie auf
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