Der Fluch der Maorifrau
dem Langstreckenflug schweißgebadet hatte aufwachen lassen: Sie stand auf einer schwingenden Hängebrücke, bekam Panik und drehte sich um. Doch es gab kein Zurück, denn hinter ihr lag alles im Nebel.
Sophie schob die Erinnerung an den Traum beiseite, krampfhaft bemüht, sich auf die Realität dort draußen zu konzentrieren. Die Natur, die sie bei klarer Sicht erkennen konnte, war atemberaubend schön. Der Himmel schien von einem intensiven Blau, das sie nur von Hochsommertagen an der Nordsee kannte. Sie sah Flüsse, Berge, viel sattes Grün und unzählige Schafe. Von oben erinnerte vieles an Europa, nur lagen hier die verschiedenen Landschaften weitaus näher zusammen. Tauchte ein Strand auf, erkannte sie gleich darauf riesige Gletscher mit schneebedeckten Kuppen, wie man sie in den Alpen fand.
»Die Natur Neuseelands ist überwältigend schön. Und stell dir vor, es gibt in diesem Land, das von der Fläche her kleiner als Deutschland ist, zugleich alpines und subtropisches Klima«, hatte Emma ihrer Tochter mit einem Leuchten in den Augen vorgeschwärmt.
Das Flugzeug setzte zum Landeanflug an. Das Grün dort unten wurde satter, die Schafe standen dichter, aber wo war die Stadt? Das Flughafengebäude von Dunedin wirkte von oben wie eine ländliche Lagerhalle. Das scheint das Ende der Welt zu sein, dachte Sophie. Was Emma wohl dazu getrieben hat, ausgerechnet hierher zu reisen?
Als die Maschine sicher gelandet war, klopfte Sophies Herz bis zum Hals. Was würde sie in diesem Land erwarten? Was?
»Weißt du, wie die Maori ihr Land nennen?«, hatte Emma sie einmal gefragt und gleich selbst geantwortet: »Aotearoa, Land der langen weißen Wolke.« Kam es ihr nur im Nachhinein so vor, oder hatten Emmas Augen fiebrig geglänzt, sobald sie von diesem fernen Stück Erde im Pazifik gesprochen hatte?
Als Sophie mit ihrem kleinen Koffer in die Ankunftshalle trat, spürte sie, wie ihre Knie weich wurden. Es standen so viele Menschen dort draußen, dass Sophie nicht wusste, wie sie den Anwalt erkennen sollte.
»Sie müssen mich doch nicht abholen«, hatte sie ihm gesagt. »Es ist schließlich Weihnachten.«
Er hatte sich allerdings nicht davon abbringen lassen.
Obwohl es Sophie eigentlich klar war, dass hier am anderen Ende der Welt Hochsommer herrschte, hatte sie das bei ihrer überstürzten Abreise aus dem nasskalten Hamburg nicht bedacht. Erst bei dem Anblick der sommerlich gekleideten Wartenden fiel ihr ein, dass sie keine passenden Anziehsachen eingepackt hatte.
In diesem Moment trat ein großer dunkelhaariger Mann in heller, sommerlicher Freizeitkleidung auf sie zu.
»Sorry, sind Sie Sophie de Jong?« Die Stimme war unverkennbar. Es war der Mann, der ihr die Nachricht überbracht hatte. Nur sprach er jetzt englisch.
»Ja. Und Sie sind sicherlich John Franklin«, gab Sophie in perfektem Englisch zurück.
Er nickte freundlich und nahm ihr den Koffer aus der Hand. »Wie war Ihr Flug?«, erkundigte er sich höflich und eilte voran.
»Okay. Danke, dass Sie mich abgeholt haben.«
Als sie das Flughafengebäude verließen, musste Sophie die Augen fest zusammenkneifen. Die gleißende Sonne stach unbarmherzig vom Himmel. An eine Sonnenbrille hatte sie auch nicht gedacht. Obwohl ein leichter Wind wehte, der entfernt nach Meer roch, klebte ihr das dunkelblaue Kostüm bereits am Körper. Ein schwarzes, dem Anlass angemessenes Teil hatte sie nicht im Schrank gehabt. John Franklin steuerte zielstrebig auf einen schwarzen Jeep zu und hielt ihr die Beifahrertür auf.
»Soll ich Sie erst in Ihr Hotel fahren, damit Sie sich umziehen können?«, fragte er, während er den Wagen startete.
»Nicht nötig. Ich hoffe, Sie haben eine Klimaanlage«, seufzte Sophie und registrierte, dass der Anwalt sie musterte.
»Wollen Sie sich nicht doch schnell noch etwas Leichtes anziehen, bevor wir in mein Büro fahren?«
»Ich würde lieber gleich ...« Sie stockte und seufzte tief, bevor sie fortfuhr: »Meine Mutter sehen, ich würde gern meine Mutter sehen.«
Der junge Anwalt räusperte sich verlegen.
»Frau de Jong, man hat mich gebeten, Ihnen zu sagen ...« Er holte tief Luft. »Ihr Wagen ist von der Straße abgekommen und hat Feuer gefangen ...« Weiter kam er nicht, denn Sophie stieß ein verzweifeltes »Nein!« hervor, während ihr Tränen in die Augen schossen.
John Franklin legte die Hand auf ihren Arm. »Es tut mir unendlich leid.«
Sophie spürte in jeder Faser ihres Körpers, wie gut ihr diese Berührung tat. Ihr Schmerz,
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