Der Fluch der Maorifrau
dachte natürlich, Sie wüssten über alles Bescheid.«
John Franklin sah Sophie direkt in die Augen. So konnte er offensichtlich am besten abschätzen, wie viel mehr Wahrheit die junge Frau noch verkraften würde. Auch Judith ließ den Blick nicht von ihr. Sophie wirkte völlig verstört.
»Darf ich jetzt vielleicht den Brief Ihrer Mutter verlesen?«, fragte John hastig.
Sophie nickte.
»Mein über alles geliebtes Kind ...«, begann Franklin, und Sophie sah ihn erstaunt an, als er sich plötzlich fehlerfrei ihrer Sprache bediente. Dann fiel ihr das Telefonat wieder ein. Da hatte er ja auch deutsch geredet.
Er machte eine Pause, weil er ihren verwirrten Blick bemerkte.
»Ich war auf meinem Europa-Trip auch länger bei einer Tante in Köln. Und ich hatte Deutsch in der Schule. Die Wurzeln meiner mütterlichen Familie liegen in Deutschland«, kam er Sophies Frage zuvor. Dann fuhr er vorsichtig fort:
»Sei nicht traurig! Bitte. In der Nacht, in der Papa starb, hatte ich einen Traum. Er rief mich und sagte mir, dass ich bald bei ihm sein würde. Da habe ich geahnt, dass ich sterben muss. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich an den Fluch geglaubt und gewusst, dass ich vor der Vergangenheit nicht länger davonlaufen kann - nicht einmal an das andere Ende der Welt. Und vor allem wurde mir klar, dass du ein Recht hast zu erfahren, wo deine Wurzeln liegen. Ich habe oft versucht, es dir zu sagen. Erinnerst du dich, wie wir manchmal bei einem Glas Wein zusammensaßen und über Papa geredet haben?«
John Franklin wurde von Sophies lautem Schluchzen unterbrochen. Judith reichte ihr ein Taschentuch. Die beiden Anwälte schwiegen rücksichtsvoll, bis Sophie mit tränenerstickter Stimme raunte: »Bitte weiter!«
John Franklin räusperte sich.
»So manches Mal war ich kurz davor, dir alles zu erzählen, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Ich musste hierher zurück, um es für dich aufzuschreiben, und ich bitte dich von Herzen: Versuche nicht, ungeduldig, hinter mein Geheimnis zu kommen, sondern lass dir Zeit für die Geschichte deiner Familie! Du wirst alles erfahren. Dann erst kannst du dir selbst ein Urteil bilden. Über mich und über den Fluch.«
Mit diesen Worten deutete der Anwalt auf eine Holzkiste, die mitten auf dem Konferenztisch stand.
Das ist also übriggeblieben von dir, Emma, dachte Sophie bitter, und es trieb ihr erneut Tränen in die Augen.
John Franklin aber las weiter:
»Ich hatte solche Angst damals. Verzeih mir! Ich wollte mit Papa und dir ein neues Leben anfangen, vor dem Fluch davonlaufen, euch schützen, aber nun hat er mich eingeholt. Er hat mir meinen über alles geliebten Mann genommen. Ich habe in den letzten Wochen nun meine und damit auch deine Geschichte niedergeschrieben und möchte, dass du sie liest. Hier, in der Heimat deiner Mutter. Ich bete, dass du mich noch lieben wirst, nachdem du alles erfahren hast. Und bitte: Pass gut auf dich auf!«
»Oh, Mama!«, schluchzte Sophie verzweifelt. Tränen rannen ihr über die Wangen, aber sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen.
John Franklin holte tief Luft. Er schien zu wissen, was jetzt kam.
»Ich würde so gern bei dir sein, wenn du heiratest, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich in diesem Land sterben werde. Wenn es so sein soll, dann möchte ich in dieser Erde, der Erde meiner Heimat, begraben werden.«
Sophie hörte abrupt mit dem Schluchzen auf und wurde kalkweiß.
Judith sprang auf, holte ein neues Glas Wasser aus der Küche und reichte es der jungen Frau.
»Sie hat es geahnt!«, stöhnte Sophie in einem fort. »Sie hat es geahnt.«
»Sophie!«, unterbrach John Franklin sie mit sanfter Stimme. »Wenn es Ihnen hilft, werde ich alles vorbereiten, damit Ihre Mutter hier beerdigt werden kann.«
Sophie antwortete nicht. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Es konnte doch nicht sein, dass ihr Leben binnen weniger Tage so aus dem Ruder gelaufen war. Was hatte sie in diesem fremden Land zu suchen? Heimat? Was meinte Emma mit Heimat? Sophie wollte nach Hause, nichts wissen von dem, was ihre Mutter für sie niedergeschrieben hatte, einfach davonlaufen.
»Mister Franklin, ich werde die sterblichen Überreste meiner Mutter mit nach Deutschland nehmen, und das, was sie aufgeschrieben hat, das werde ich ungelesen hierlassen«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens in die Stille hinein.
»Daran kann ich Sie nicht hindern«, entgegnete der Anwalt ganz ruhig und fügte hinzu: »Trotzdem würde ich jetzt gern das
Weitere Kostenlose Bücher